Christian Ohm
Verse gegen den Krieg in den Wind hängen
Zu den aktuellen Ereignissen weiß ich nichts zu sagen. Aber ein altes Gedicht habe ich gefunden, das in das Herz der Gegenwart spricht.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
13.10.2023

Mein Kollege Christian Ohm hängt jeden Sommer Gedichte in den Wind. Seine Kirche in Altenkirchen auf Rügen hat einen herrlichen Garten. Für jede Saison sucht Ohm zu einem Thema passende – alte und neue – Verse, druckt sie aus, laminiert sie, hängt sie an Stöcken in eine lange Reihe, Gäste und Nachbarn kommen, lesen sich von einem Stock zum anderen voran.

Inzwischen ist ein fein gestaltetes Buch daraus geworden: „Verse im Küstenwind“. Darin lese ich gerade, täglich ein oder zwei Gedichte. Jetzt habe ich darin ein Sonett gefunden, das fast 400 Jahre alt ist, aber präziser als jeder aktuelle Kommentar das ausdrückt, was mir gerade durch Sinn und Herz geht. Andreas Gryphius hat es geschrieben, als der Dreißigjährige, endlos erscheinende Krieg in Deutschland tobte. Es trägt den Titel „Tränen des Vaterlandes im Jahre 1636“.

Wir sind doch nunmehr ganz ja mehr denn ganz verheeret.
Der frechen Völcker Schar, die rasende Posaun,
Das vom Blut fette Schwerdt die donnernde Karthaun.
Hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.


Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun.
Die Jungfraun sind geschändt, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret.


Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen.


Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot:
Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

Viele fragen sich, was sie angesichts der grauenhaften und beängstigenden Nachrichten tun können. Nichts können wir tun. Aber um die Seele können wir uns kümmern – die eigene und die der Nächsten. Zum Beispiel indem wir Verse so in den Wind hängen, dass sie andere erreichen und ihnen aus dem Herzen und in die Seele sprechen. Eigentlich ist das ein treffendes Bild für das Beten.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur