- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Mit dem "Green Deal" möchte die Europäische Union bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden. Wird Europa diesem Anspruch gerecht?
André Prescher-Spiridon: In den vergangenen fünf Jahren ist mehr passiert als in den Jahrzehnten davor. Deshalb finde ich: Ja, bis zu einem gewissen Grad geht die Europäische Union voran beim Klimaschutz. Dass es ein Gesetz gibt, das die Klimaneutralität bis 2050 vorschreibt, ist ein Fortschritt. Ein anderes, sehr bekanntes Beispiel ist das Verbrenner-Aus.
Was bedeutet dieses Verbrenner-Aus konkret?
Ab 2035 dürfen EU-weit keine Neuwagen mit Verbrennungsmotor mehr verkauft werden. Dieses Aus für den Verbrennungsmotor ist besiegelt. Ich kann mir kaum eine politische Konstellation in Deutschland vorstellen, die das auf nationaler Ebene so beschlossen hätte. Dafür brauchte es den Impuls aus Brüssel und Straßburg. Auch im Bereich der Energiewende und der erneuerbaren Energien hat sich viel getan. Leider hat sich erst durch den russischen Angriff auf die Ukraine das Bewusstsein vollständig geschärft, dass wir wegkommen müssen etwa vom russischen Gas.
Welche Macht hat das Europäische Parlament überhaupt?
Es ist, neben dem EU-Ministerrat, gleichberechtigter Gesetzgeber in Europa. Damit ist es durchaus vergleichbar mit dem Bundestag. Die einzige Ausnahme besteht darin, dass das Europäische Parlament keine Gesetze initiieren kann. Das Vorschlagsrecht liegt bei der EU-Kommission. Das ist ein Problem, und wir schlagen vor, das zu ändern. Nichtsdestotrotz gibt es überhaupt keinen Grund zu sagen: "Die Wahl am 9. Juni ist egal, denn die Parlamentarier können eh nichts entscheiden!" Im Gegenteil: Klima-, Natur- und Umweltschutz sind weitestgehend europäische Angelegenheiten. Etwa 80 Prozent der entsprechenden Gesetze in Deutschland haben - direkt oder indirekt - ihren Ursprung in der EU.
Ab 2027 greift der EU-Emissionshandel stärker als in der Vergangenheit. Wer fossile Brennstoffe verbraucht, muss mehr bezahlen als heute, weil sich der Preis für eine Tonne Kohlendioxid mutmaßlich verteuern wird. Denn der Emissionshandel sieht ja vor, dass es weniger Emissionsrechte gibt, sie werden damit teurer. Kann ein Europäisches Parlament nach einem möglichen Rechtsruck solche Vorhaben oder auch das Verbrenner-Aus zurückdrehen?
Ja, auf jeden Fall ist das möglich! Der Emissionshandel ist dafür auch ein gutes Beispiel, denn es ist ein rein marktbasierter Mechanismus. Das bedeutet: Die Hoffnung besteht darin, dass ab 2027 der Preis alles regelt und die Emissionen sinken. Das kann aber auch böse enden.
Inwiefern?
Die Preise sind nicht fix. Sollten die Emissionen nicht schnell genug sinken, könnten die Preise nach oben ausschlagen - zum Beispiel für Benzin oder für Gas zum Heizen. Das kann zu sozialen Spannungen führen, wie wir es zum Jahreswechsel bei den Landwirten gesehen haben. Und dann dürfte die Versuchung groß sein, den Emissionshandel abzuschwächen oder abzuschaffen. Deshalb sagen wir: Der Emissionshandel kann hilfreich sein, aber er allein ist nicht die Lösung. Es muss zum Beispiel dringend eine sozialpolitische Begleitung geben - und flankierende Maßnahmen zur Emissionsreduktion.
Und das hieße?
Die Einnahmen aus dem Emissionshandel müssen den Menschen wieder zugutekommen, vor allem jenen, die wenig Geld haben. Auch andere flankierende Maßnahmen sind wichtig für Menschen, die nicht aus eigener Kraft auf klimafreundliche Energien umsteigen können – zum Beispiel die Förderung klimafreundlicher Heizungstechnologien oder ein verbesserter, grenzüberschreitender Zugverkehr in Europa, damit man bezahlbar und umweltfreundlich reisen kann. Das sind alles Beispiele für Themen, nach denen man sehr gut am Wahlkampfstand fragen kann und sollte.
Was können wir auf europäischer Ebene noch erreichen für Klima und Umwelt? Worauf kann man achten bei der eigenen Wahlentscheidung - und die Parteien und Kandidierenden fragen?
Unter den "Green Deal" fallen auch Vorhaben aus dem Naturschutz wie das Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten. Es soll sicherstellen, dass für Produkte, die wir in Europa kaufen, kein Regenwald im Amazonas gefällt werden muss. Aber da drohen momentan wieder Rückschritte. Die Pestizidverordnung ist gescheitert. Sie hatte das Ziel, den Einsatz von Pestiziden zu halbieren. Die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur - viele bezeichnen sie auch als Renaturierungsgesetz - hängt im Ministerrat fest. Der Ausgang ist noch ungewiss. Im Naturschutz ist noch viel Luft nach oben. Auf die versprochene Reform des Chemikalienrechts warten wir immer noch, die EU muss uns vor gefährlichen Stoffen besser schützen. Europa muss seinen Ressourcenhunger beenden. Wir fordern deshalb ein EU-Ressourcenschutzgesetz, das die Abfallflut eindämmt, Recycling fördert und unseren Verbrauch insgesamt reduziert. Und ein riesiges Thema ist natürlich die Landwirtschaft.
"Das Projekt 'Green Deal' ist noch lange nicht fertig. Deshalb ist die Europawahl am 9. Juni so wichtig - André Prescher-Spiridon
Warum?
Dort ist wenig passiert, obwohl die meisten Gelder in diesen Topf fließen. Wir müssen weg vom Gießkannenprinzip. Das viele Geld stoppt ja momentan nicht das Höfesterben. Es wäre besser, das Geld zum Beispiel gezielt jungen Bäuerinnen und Bauern zu geben, die Höfe übernehmen, aber neue, umweltfreundlichere Wege gehen wollen. Stattdessen profitieren vor allem Großbetriebe von EU-Mitteln. Also: Das Projekt "Green Deal" ist noch lange nicht fertig. Deshalb ist die Europawahl am 9. Juni so wichtig.
Es gibt oft die Klage, dass es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Wie wichtig ist das Thema Umwelt- und Klimaschutz in anderen Ländern der Europäischen Union?
Dieses Thema ist überall wichtig. Es ist nicht so, dass uns das nur in Deutschland interessiert. Das hängt auch mit vielen Katastrophen zusammen, die die Menschen leider ereilt haben. Denken Sie nur an Hitzewellen und Waldbrände in Südeuropa oder an die Fluten in Slowenien im vergangenen Jahr. Klimaschutz hat europaweit eine hohe Priorität, Umfragen und Studien zeigen das ganz klar.
Die Frage, welche Rolle Atomkraft im Klimaschutz spielen kann, wird in Europa unterschiedlich beantwortet. Frankreich setzt auf Nuklearenergie, Deutschland auf Wind und Sonne. Wie nehmen Sie dieses Thema wahr?
Es heißt oft, es gebe ein Revival der Atomkraft in Europa. Ich sehe das nicht so. Atomkraft ist extrem teuer, die Endlagerfrage ist in den meisten Ländern überhaupt nicht beantwortet und das Risiko eines Unfalls bleibt.
Vielen Dank für Gespräch, Herr Prescher-Spiridon!
Zur Person: André Prescher-Spiridon ist studierter Landschaftsplaner und Wirtschaftswissenschaftler. Seit 2021 vertritt er den BUND auf europäischer Ebene und arbeitet u.a. zur EU Landwirtschafts- und Naturschutzpolitik.