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"Ich gehe dieses Jahr als Clown“, sagt Anne, als beim Frauenfrühstück das Gespräch auf den Faschingsball kommt. „Das passt ja großartig“, grinst Lara. „Was meinst du damit?“, fragt Anne verärgert. „Ich möchte auch mal lustig sein.“ „Mal lustig? Du bist doch sowieso die größte Ulknudel unter dem Himmelszelt!“, tönt es ihr aus dem Kreis der Freundinnen entgegen. Anne fühlt sich völlig missverstanden. Und die anderen können nicht begreifen, was los ist – Anne ist doch schon seit der ersten Klasse immer ein echter Clown gewesen!
Das Bild, das man von sich selber hat, stimmt mit der Wahrnehmung anderer nicht immer überein. Der Chef hält sich für verständnisvoll. Dabei zucken seine Mitarbeitenden beim ersten Ton der Kritik zusammen – so ätzend kommt sie jedes Mal rüber. Der Nachbar betont, dass er ein Musterexemplar an Hilfsbereitschaft ist. Gemerkt hat das bislang noch keiner im Haus. Was tun, wenn das Gegenüber meint, so und nicht anders zu sein – und man selber einen ganz anderen Eindruck hat?
Wer dem anderen vermeintliche oder tatsächliche Wahrheit um die Ohren haut, wird wenig erreichen. Eine solche Konfrontation zwingt nur zur Selbstverteidigung. Besser ist es, eine offensichtlich falsche Selbsteinschätzung freundlich zu hinterfragen oder auch mal herauszufordern. Die Kollegin, eine echte Plaudertasche, das Genie im Zuhören? Dann sollte man sie mit klaren Worten bitten, auch wirklich zuzuhören, wenn man etwas Wichtiges zu sagen hat. Notfalls mit den Worten: „Darf ich dich unterbrechen? Du kannst doch so gut zuhören . . .“
Zugleich ist Barmherzigkeit angesagt. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an“, heißt es in der Bibel (1. Samuel 16,7). Das ist eine Mahnung zu sorgsamer Zurückhaltung. Man selber kann einen anderen nicht ganz, nicht umfassend und immer richtig beurteilen. Also Vorsicht – vielleicht versteckt sich hinter dem Clown tatsächlich ein melancholischer Mensch, den das Leben plagt. Und hinter der redseligen Freundin eine Frau, die Ruhe nicht ertragen kann, weil ihr dann das ganze Elend ihrer familiären Situation bewusst wird.
Man muss aufeinander hören, allmählich sich sehen lernen: Was möchtest du mir sagen? Was bedeuten deine Worte wirklich, was deine Gesten? Wie kommt umgekehrt bei dir an, was ich mitteile? Solche Fragen braucht es, wenn man unterschiedliche Selbst- und Fremdwahrnehmung in Einklang bringen möchte. Und was, wenn man sich selber missverstanden fühlt? Andere erleben einen selbstbewusst, und nur man selber weiß, wie viel Scheu zu überwinden ist, um zupackend zu sein.
Oder einer wird als männliches Mauerblümchen abgestempelt. Er selber aber spürt, da ist versteckte Energie in ihm, so viel verpuppte Lebensfreude – er kann sie nur noch nicht fliegen lassen wie einen Schmetterling. Natürlich darf man sich an der Gewissheit festhalten, dass immerhin der liebe Gott weiß, was mit einem los ist. Aber man möchte auch mit möglichst vielen Seiten von den Mitmenschen gesehen werden. Dazu ist es notwendig, diese Seiten zu zeigen: die schüchternen, sanften und verletzlichen, die wagemutigen, belasteten und lustigen.
Das braucht Mut und Menschen, denen man vertraut. Die sehr behutsam damit umgehen, dass man ihnen die Tränen des Clowns, die Einsamkeit der Prinzessin, die Angst des Piraten und das Strahlen des Zwerges zeigt. Wer es schafft, aus dem Kokon zu schlüpfen, in den ihn die eigene Lebensgeschichte eingemantelt hat, der wird erleben, dass andere nach wie vor sehen, was vor Augen ist – aber auch einen Blick in das Herz tun.
Selbstbild und Fremdbild
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