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Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, sagt ein Sprichwort, das meist fälschlich für biblische Weisheit gehalten wird. In der Bibel kann man zwar nachlesen, dass "des Gerechten Zunge kostbares Silber" und die "Worte des Herrn wie lauter Silber" sind. Die Schlussfolgerung jedoch, dass Schweigen deshalb immer gleich Gold wäre, ist falsch. Auch in der arabischen Welt, aus der das Sprichwort kommen soll, wird gerne und weitschweifig parliert. Wirklich weise ist, was tatsächlich in der Bibel steht: "Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit." Wie immer also ist sorgfältig zu unterscheiden, wann man was wem und warum überhaupt mitteilt.
Bevor man über eigene Schwächen und Belastungen spricht, sollte man überprüfen, welchen Sinn es hat, über Migräne oder die bevorstehende Scheidung zu sprechen. Zwar soll niemand seine Nöte in sich hineinfressen müssen. Jeder braucht mindestens eine Vertrauensperson, die ihm als Klagemauer dienen kann und will. Wie schädlich beharrliches Schweigen für die eigene Gesundheit an Leib und Seele wäre, weiß man längst. Aber nicht alles muss gleich öffentlich werden. Es gibt eine Redseligkeit, die anderen, oft Wildfremden kein einziges Detail einer Krankheit oder Lebensgeschichte erspart. Mag sein, dass das den, der erzählt, für den Moment entlastet. Aber was macht der andere damit?
Am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft lauern gelegentlich Menschen, die nur auf ein Zeichen von Schwäche warten, um damit dann hausieren zu gehen. Nicht für alle Ohren sind Ängste, Beziehungsprobleme oder Depressionen bestimmt es sei denn, man möchte zum Stadtgespräch werden und die eigene Situation bei der unpassendsten Gelegenheit wieder vorgehalten bekommen. Eine längst überstandene Krankheit etwa wird dann ins Spiel gebracht, wenn es um die Besetzung einer wichtigen Position geht. Sie war doch krank, heißt es auf einmal scheinheilig-fürsorglich, eine solche Belastung kann man ihr doch nicht zumuten.
Manchmal ist Schweigen Gold wert, ein andermal ist es einfach nur Blech
Manchmal ist Schweigen also Gold wert, ein andermal ist es einfach nur Blech. Durch Reden über Schicksalsschläge oder eigene Fehler kann nämlich manches leichter werden. Andere merken, dass man nicht der Superheld ist oder die Powerfrau, die sie womöglich in einem sehen. "Willkommen unter uns Sterblichen" ist ein Satz, der deutlich macht: Beruhigend, dass du ganz normal bist mit den Schwächen, die zu jedem und zu jeder dazugehören. Das schafft Nähe und Verständnis füreinander und es nimmt einem selber den Druck, unter den man sich andernfalls setzt. Warum immer so tun, als wäre man perfekt? Warum nicht zeigen, dass man hin und wieder selbst unter den eigenen Unzulänglichkeiten leidet und sie mit Nachsicht zu ertragen versucht?
Wer nach einer Magenoperation beim Essen Schwierigkeiten hat, sollte das sagen. Diese Bereitschaft, Auskunft über die eigene Befindlichkeit zu geben, bewahrt einen meistens jedenfalls vor weiteren Fütterungsattacken wohlmeinender Mitmenschen oder vor beleidigten Kellnern. Jeder weiß nach einer solchen Information, warum man nur die Hälfte bestellt oder eben einfach nicht aufessen kann, egal, wie gut es schmeckt. Wer sich mit Rückenschmerzen herumschlägt, kriegt nur dann den richtigen Schreibtischstuhl, wenn er deutlich sagt, was er braucht. Eine Frau, die ihren Mann verloren hat, kann mit ihren Tränen besser verstanden werden, wenn sie sich anderen gegenüber erklärt.
Als amerikanische Präsidentengattinnen und Schauspielerinnen von ihrem Brustkrebs oder ihrer Alkoholsucht und den jeweiligen Therapien sprachen, fassten viele Menschen Mut, selbst auch zur Untersuchung zu gehen, sich dem Ergebnis zu stellen und gegebenenfalls einer Behandlung zu unterziehen. Menschen, die vor einem größeren Kreis von ihren Leiderfahrungen sprechen, helfen nicht durch Schweigen, sondern durch klare Worte. Manche Tabus müssen gebrochen werden, damit sich, wie bei Aids, nicht weiter Angst ausbreitet und man mit denen, die infiziert sind, normal umgeht.
Es empfiehlt sich, die eigene Mitteilsamkeit zu dosieren. Das ist eine Gratwanderung zwischen peinlicher Selbstdarstellung, die bloß Voyeure anlockt, und totaler Verschwiegenheit, an der man fast erstickt. Dezent aufrichtig sein ist die Devise: Nicht jede Einzelheit müssen alle wissen. Man sollte sich immer einen geschützten Bereich an Privatheit bewahren, der nur einem selbst und den liebsten Menschen zugänglich ist. Natürlich verändert solche Offenheit in einem Vier-Augen-Gespräch. "Ach, du auch", sagt der andere vielleicht und fühlt sich gut aufgehoben.
Ein russischer Literat schrieb einmal: "Es ist zehnmal besser auszusprechen, was los ist, zehnmal besser, die Phantasie zu erschrecken, als ihr freien Lauf zu lassen." So muss man das sehen: Bevor sich andere in den wildesten Vorstellungen über einen ergehen, sollte man ihnen reinen Wein einschenken. Aber nur, wenn die eigenen Eingeständnisse zum besseren Verständnis füreinander beitragen. Und wenn diese anderen das Vertrauen wirklich wert sind, das man in sie setzt.