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Lucas Cranach malte sie auf seinen Bildern. Sie finden sich auf vielen barocken Kanzeldeckeln, sind auf Abendmahlsoblaten eingeprägt und selbst im Dienstsiegel meiner Heimatgemeinde zu sehen: niedliche Lämmer mit kleinem Siegesfähnlein. Viele Jahre habe ich, wenn im Gottesdienst vom Lamm Gottes, „das der Welt Sünde trägt“, die Rede war, sie mir vor meinem geistigen Auge vorgestellt.
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ – meine Vorstellungen aus heilen Welten haben allerdings im vergangenen Jahr eine empfindliche Störung erlitten, als ich mit Studierenden auf dem Berg Garizim bei Nablus, Sichem, das Pessachfest der Samaritaner beobachten durfte.
Im Zentrum der öffentlichen Zeremonie steht die Schlachtung der Pessachlämmer – also genau diejenige alttestamentliche und jüdische Zeremonie, auf die der Satz vom Gotteslamm anspielt: Das zweite Buch Mose (12,1–14) berichtet, wie der Todesengel an den Zelten derer vorübergeht, die ihre Türpfosten mit dem Blut eines Lammes bestrichen und es verzehrt haben.
Und beim Propheten Jesaja (53,7) wird dieses Lamm mit dem Schicksal eines Gottesknechtes verbunden, der die Sünde des Volkes Israel durch einen stellvertretenden Tod trägt: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“
Überall Blut, auf dem Boden, in einer Rinne, an den Overalls . . .
Die Lämmer, die wir auf dem Garizim sahen, gingen gar nicht willig über die Dorfstraße zur Schlachtung, sondern schienen zu ahnen, was bevorstand, und wehrten sich nach Kräften. Nach der Schlachtung sah man überall Blut, auf dem Boden in einer Rinne, an den Overalls derer, die geschlachtet hatten – mir war es angesichts des Schocks über die Schlachtung nur ein geringer Trost, dass die Studierenden, die vom Lande kamen, uns entsetzte Städter mild ironisch fragten, ob wir dächten, das Fleisch von der Fleischtheke wachse an den Bäumen. Zu realisieren, dass hier das Pessach gefeiert wird, von dem meine Bibel berichtet, gelang erst eine ganze Weile nach dem Ende der Feierlichkeiten auf dem Garizim.
Weihnachten ist noch nicht einmal richtig vorbei, da wird schon der Blick auf das schreckliche Ende des Krippenkindes gelenkt. Die Frage vom Karfreitag steht mindestens implizit im Raum, ob dieses schreckliche Ende überhaupt einen Sinn hatte. Die biblischen Texte berichten von Menschen, die sowohl die Person Jesu zu verstehen als auch seinen schrecklichen Tod zu deuten wussten und denen sich sein Sinn erschloss. Der Täufer, von dem das vierte Evangelium berichtet, ist ein solcher Wissender: Er nennt Jesus nicht nur Gottes Lamm, sondern sogar Gottes Sohn.
Radikaler Gedanke, nur mit Mühe zu denken
Ich kann den radikalen Gedanken, dass mir im Gemarterten am Kreuz Gott selbst begegnet und alles Leid dieser Welt trägt, nur mit Mühe denken. Ich möchte es mir aber auch nicht so einfach machen, alles von mir zu schieben, was ich gerade nicht verstehe. Denn ich warte ja auf einen, der die Schuld fortträgt, die ich selbst nicht tragen kann. Und ich möchte in ein Gesicht Gottes blicken, das mir nahe ist, und nicht nur in ein strahlendes, gleißendes Licht, das mich blendet.
Also ist es ja nur gut und richtig, wenn mein Blick von Cranachs niedlichen Lämmern auf den jüdischen Hintergrund Jesu gelenkt wird. Und ich auf diese Weise besser verstehen kann, was unsere neutestamentlichen Texte meinen, die ihn als Gottes Lamm bezeichnen, das die Sünden der Welt trägt.