Vor einiger Zeit fand ich in einem ICE eine kleine Schrift einer ominösen christlichen Gruppe zur Frage der Sexualität. "Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist?", war sie überschrieben. Zu meiner Belustigung war Erotik immer wie Errotik geschrieben. Erotik als Error! Auch das ist eine Deutung des paulinischen Satzes vom Tempel als Sitz des Geistes Gottes, der im Christentum seine Tradition hat. Wo Sexualität, Erotik und Glück grundsätzlich unter Verdacht stehen, da sollen sie möglichst vom Geistestempel des Leibes ferngehalten werden. Sexualität wird dann zum Zugeständnis. Sie wird der Schwäche des Menschen eingeräumt, aber sie ist nicht die große Gabe Gottes. Die Bemerkung des Paulus über die Ehe deutet auf ein solches Verständnis hin: Es ist besser zu heiraten, als in Begierde zu brennen (7, 9). Das ist nicht gerade ein Hymnus auf eheliches Glück. Das Glück als Zugeständnis! In einem älteren Religionsbuch lese ich: "Vor Gott aber kann der Mensch mit einer gewissen bescheidenen Heiterkeit auch das ganz Irdische treiben: der 'Prediger' ermuntert geradezu zum bescheidenen Genießen." Für das "Treiben" der Menschen sind offensichtlich sehr enge Grenzen vorgesehen.
Paulus ist in seinen Widersprüchen ein wundervoller Theologe. Sein Misstrauen gegen Sexualität ist unverkennbar. Aber er macht sein Misstrauen nicht zum Prinzip. Das lese ich in dem bemerkenswerten Satz: "Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen." (6,12) Paulus denkt die radikale Freiheit eines Christenmenschen: Wir sind gerettet im Blick der Güte Gottes. Nichts anderes mehr kann Rettungsqualität haben, weder die Beschränkung noch andere religiöse Gesetze noch eine bestimmte Form der Sexualität. Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wir bezeugen uns nicht selbst, nicht durch religiöse Praktiken, nicht durch spezielle Formen der Sexualität. All dies kann zum Götzen werden, wo sie zu absoluten Notwendigkeiten werden. Auch die Heterosexualität wird zum Götzen, wo sie erklärt wird zur eisernen Notwendigkeit.
Zwei andere Prinzipien der Freiheit, nicht der Beschränkung, formuliert Paulus, das erste meint die Freiheit der anderen: Wem dient meine Praxis? Jedes Handeln ist Handeln im Dienst der Freiheit. Wo die Freiheit der anderen eingeschränkt wird durch meine Handlung, wo diese nicht dient, da ist sie falsch und gottlos. Das andere Regulativ meint die Freiheit des Handelnden selber: Nimmt ihn seine eigene Handlung gefangen? Schnürt ihn die Verfolgung seines eigenen sexuellen Glücks so ein, dass sie zum Zwang und damit das Glück zum Unglück wird? Wer könnte bestreiten, dass in unseren Gesellschaften Sexualität längst zum Zwang geworden ist? Nein, nicht die oben erwähnten naiven Sätze aus dem Religionsbuch sind die Gefahr für Würde und Freiheit, sondern die widerliche Zumutung, sich durch die eigene Potenz zu rechtfertigen. Solche Zwänge sind die große Gottvergessenheit. "Wer nur das Glück sucht, sucht nicht Gott", hat Dorothee Sölle in ihrem letzten Vortrag formuliert.
Es sind schöne Sätze, mit denen Paulus das Glück und die Würde der Menschen schützt: Alles ist erlaubt, alles soll dienen, nichts soll einen Menschen gefangennehmen, niemand gehört sich selbst, der Leib ist ein Tempel des heiligen Geistes.