Doch Hoffnung gibt es auch für den, dem Schlimmes widerfährt
Evelyn Dragan
27.09.2011
16. Sonntag nach Trinitatis
Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Klagelieder 3,22-26.31-32

Es gibt Kummer und Leid, in die Menschen absolut versinken. Sie finden keinen Weg mehr heraus aus Entsetzen und Trauer. Untröstlich sind sie, trostlos. Freunde und Verwandte ver­suchen vielleicht, Worte zu finden, aber für sie zeigt sich kein Silberstreif am ­Horizont. Die Klage überschattet alles. Wer persönlichem Leid begegnet, kann manchmal nur mit den Leidenden schweigen, weil kaum Tröstendes zu sagen ist, es klingt zu banal.

Solcher Kummer und solches Leid ­können auch kollektiv sein. Etwa 2001 beim Terrorangriff auf die Twin-Towers in New York, 2004 beim Tsunami in Südostasien, 2011 beim Attentat auf Jugend­liche in Norwegen. Da stehen ganze Völker unter Schock und viele Menschen ringen um Worte.

Vergewaltigte Geliebte

In eine solche Situation sprechen die Klagelieder der Bibel, die dem Propheten Jeremia zugeordnet werden, auch wenn er wahrscheinlich nicht der Verfasser ist. Das Volk Israel hat eine nationale Katastrophe erlebt, die für alle auch eine persönliche Katastrophe ist. Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 586 vor Christus, die Eroberung durch die Babylonier und die Verschleppung vieler Israeliten in die babylonische Gefangenschaft, all das Leid, das diese Situation mit sich gebracht hat, sind Thema der Klagelieder. Zion, Jeru­salem, wird als vergewaltigte Geliebte gesehen, als klagende Mutter, als weinende Witwe. 

Doch klingt aus diesen Klageliedern auch das leise Lied der Hoffnung: „Darum hoffe ich noch: Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, ­seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.“ Über Jahrtausende haben Menschen in Kummer und Leid sich an dieser leisen Melodie festgehalten, die Kummer und Leid, Entsetzen, Trauer und Tod doch immer wieder erreichen kann: Gott hält uns auch in tiefen Zeiten.

Streichholz im Dunkeln finden

Die Klagelieder vertrösten nicht. Sie behaupten nicht, Leid und Kummer seien nicht entsetzlich, tragisch, von lebenzerstörender Dimension. Sie klagen und sie geben der Klage ihr Recht und ihre Zeit. Aber sie geben der Klage nicht das letzte Wort. Sie rufen die Menschen zur Geduld, denn auch andere Erfahrungen werden folgen. Das sind die Erfahrungen der Menschheitsgeschichte. Die Geschichte des jüdisch-christlichen Glaubens zeigt: Gottes Barmherzigkeit ist immer wieder neu.

Soziologen sagen, dass Menschen mit einem hohen Resilienzfaktor Krisen besser bewältigen. Und Resilienz – also die seelische Widerstandsfähigkeit – wächst offenbar auch dadurch, dass ich Krisen, Kummer und Leid erlebe, aber die Er­fahrung mache, dass ich nach solchen ­Härten des Lebens immer wieder auch Glück empfinden kann. So sind die Täler der Trauer und Trostlosigkeit für viele Menschen auch eine Vertiefung ihrer ­Lebenserfahrung, die sie rückblickend stärker gemacht haben – wenn sie nicht daran zerbrochen sind.

Vielleicht kann ein solches Klagelied der Hoffnung nur anstimmen, wer schon lange in Beziehung zu Gott lebt. Der ständig Zweifelnde wird auch hier fragen: „Wie kann Gott das zulassen?“ Der Atheist wird sagen: „Wo ist nun dein Gott?“ Der Glaubende kann mit den Klageliedern ­klagen und doch vorsichtig formulieren: „Da war Gott.“

Ein Mann erzählte einmal, in seiner Kindheit sei auf dem Bauernhof oft der Strom ausgefallen. Alle wussten, wo ­Kerzen und Streichhölzer lagen, so dass sie auch in der tiefsten Dunkelheit zu ­finden waren. Das ist ein sehr eindrückliches und auch anrührendes Bild für den Glauben. Wenn wir eingeübt sind in das Gespräch mit Gott, in das Gebet in guten Tagen, dann werden wir es auch finden in dunklen Tagen.

 

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