- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Konvertiten ist oft zu misstrauen. Sie versuchen manchmal, ihren Abschied von alten Lebensauffassungen zu rechtfertigen und ihrer Entscheidung eine Stimmigkeit und Kontinuität zuzusprechen, die nicht selten recht gewalthaft sind. Warum sollte ich Paulus davon ausnehmen? Er war einer der ersten Verfolger der christlichen Gemeinden gewesen. Er „hatte Gefallen“ gehabt an der Steinigung des Stephanus, des ersten christlichen Blutzeugen. Er „suchte die Gemeinde zu zerstören, ging von Haus zu Haus, schleppte Männer und Frauen fort und warf sie ins Gefängnis“ (Apostelgeschichte 8,3). Dann bei Damaskus der Ruin seines alten Glaubens; die Blendung seiner alten Augen und das neue Licht, das ihn zum Heidenmissionar machte.
Was macht einer mit der Erfahrung eines solchen Ruins des alten Lebenshauses? Wie kann man das neue Leben leben, ohne seine Vergangenheit völlig abzuschreiben und zu verwerfen? Paulus macht eine Theologie aus seiner Erfahrung. Er stellt sie uns vor in drei Kapiteln seines Römerbriefes (9–11). Kurz zusammengefasst: Das jüdische Volk ist erwählt, und Gott hat diese Erwählung nicht aufgehoben. Wohl leben die meisten jetzt in Verstockung und Blindheit, weil sie die Gnadengabe Christi nicht anerkennen. Dann ein merkwürdiges Argument: Die Verwerfung Israels ist die Versöhnung der Welt (11,15), sie macht den Weg frei für den Einzug der Völker. Wenn aber die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist, dann wird auch ganz Israel gerettet (11,25).
Erwählung heißt: Ausschluss der anderen
Paulus ist nicht für das verantwortlich, was die Kirchen aus seinen Aussagen über das Judentum gemacht haben. Sie haben gehört, was ihnen passte. Das ist immer die Gefahr im Umgang mit der Bibel, dass man liest, was man zu lesen wünscht. Die Kirchen haben hauptsächlich diese Begriffe über das Judentum von Paulus gelernt: Verblendung, Verstockung, Verwerfung. Sie wurden in vielen Bildern eingebrannt in die Seelen der Menschen, eines der eindrücklichsten: Ecclesia und Synagoge am Südportal des Straßburger Münsters. Ecclesia, gekrönt, mit dem Kreuzesstab stehend in unerträglicher Arroganz; die Synagoge mit zerbrochenem Speer, entthront und geblendet. Es gibt Hunderte von Darstellungen dieser Art.
Wie wäre es, wenn jede Religion auf den stolzen Begriff der besonderen Erwählung verzichtete? Wie die Geschichte zeigt, geht er immer mit dem der Verwerfung anderer zusammen. Erwählung heißt Ausschluss der anderen. Gewiss, man kann Erwählung anders deuten. Aber das Bild ist zu stark. Es gebiert fast automatisch den Gedanken der Nichterwählung oder gar den der Verwerfung.
Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ein Moment der Verblendung und der Geneigtheit zum Krieg war die Überzeugung von der eigenen kulturellen und religiösen Überlegenheit, der besonderen Erwählung und göttlichen Sendung der deutschen Nation. Gott hat das deutsche Volk auserwählt, um sein Werk auf Erden voranzutreiben, hieß es in Predigten. Dieser fatale Gedanke findet sich ebenso bei Franzosen und Engländern.
Die Armen, die Hungernden, die Friedensstifter - Lieblingskinder Gottes
Religionen fällt es schwer, die eigene Endlichkeit anzuerkennen, eine unter vielen zu sein, geliebt von Gott und mit dem Recht auf die eigene Existenz wie alle anderen. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit aber ist die Voraussetzung des Friedens und aller Humanität. Es genügt zu wissen, dass wir alle von Gott gemeint sind. Das ist Trost und Erwählung genug.
Und doch, es gibt sie, die Lieblingskinder Gottes. Jesus nennt sie in der Bergpredigt: die Armen, die Hungernden, die Weinenden, die Ausgestoßenen, die Barmherzigen und die Friedensstifter.