Ich erzähle von einer Zeit meines Lebens, die trostlos war und in der ich am meisten Trost erfahren habe. Es war die Zeit nach dem Tod meiner Frau. Nicht getröstet hat mich, wenn jemand versuchte, meinen Schmerz zu mindern. "Das Leben geht weiter", haben mir wohlmeinende Leute gesagt. Es gibt abstrakte Richtigkeiten, die zugleich konkrete Falschheiten sind. Das Leben ging eben nicht weiter, den Schmerz darüber konnte mir niemand ausreden, auch nicht mit einem religiösen Satz. Die Sätze des Glaubens haben nichts vom Schmerz genommen Gott sei Dank. Sonst wären sie nichts als Vertröstung.
Aber es gab viele Arten des Trostes, die den Schmerz ernst genommen und ihn nicht gemindert haben. Der tiefste Trost aus jener Zeit waren Freunde und Freundinnen, die mich oft besuchten und die den Schmerz ehrten. Sie haben keine tröstenden Worte gefunden. Sie waren da, und sie haben sich von meinem Unglück nicht vertreiben lassen. Das Unglück vertreibt ja oft die Freunde, und trostlos macht einen nicht nur, was man erlitten hat. Trostlos macht uns die Einsamkeit, weil Menschen in der eigenen Selbstverständlichkeit des Lebens so wenig die Weltuntergänge der anderen ertragen. Meine Freunde sind geblieben, sie haben mir den Schmerz gelassen. Die Trauer wurde nicht gemildert, aber geteilt. Der Trost der Freunde war ihre Anwesenheit, keine klugen Worte und kein Versuch, mich aus meinem Abgrund zu retten. Sie waren übrigens nicht nur für mich da, sie waren auch da als sie selber, mit ihrer Arbeit, von der sie erzählten, mit ihren eigenen Sorgen und mit ihrem Glück. Sie haben mich nicht eingeschlossen gelassen in einem Trauernarzissmus, in dem man nicht mehr wahrnehmen kann als sich selber im eigenen Unglück. Indem sie mit sich selber da waren, nicht nur für mich, haben sie mir gezeigt, dass es noch etwas anderes gibt als mein eigenes Unglück. Sie haben mich langsam in die Welt zurückgeführt, in die ich eigentlich nicht mehr wollte.
Der erste Impuls, nachdem einem eine große Lebenswunde geschlagen wurde, ist die Flucht in die Einsamkeit. Besonders trostlos ist der Versuch, auch im Unglück Meister seiner selbst zu sein und nach außen zu tun, als sei nichts geschehen. Sich selber dem Trost nicht entziehen, heißt auch sich einzugestehen, dass man mit sich allein nicht fertig wird. Man ist angewiesen. In den wichtigsten Dingen des Lebens ist man nicht sein eigener Meister. Einen Menschen trösten heißt, ihn bedürftig sein zu lassen; ihn weinen zu lassen; ihn kleiner sein zu lassen, als er ist. Wenn ein Mensch einen Unglücklichen in den Arm nimmt, macht er fast automatisch eine wiegende Bewegung. Er wiegt den Geschlagenen, wie man ein trostloses Kind wiegt. Welche Lebenserleichterung, dass man in den Niederlagen des Lebens nicht sein einsamer Meister sein muss. Welche Größe, auf die trostlose Kunst der eigenen Lebensmeisterschaft zu verzichten.
Gewiss sind es nicht nur Menschen, die trösten. Man könnte es einen objektiven Trost nennen, dass am Morgen die Sonne aufgeht und am Abend unter, dass die Vögel singen und der See sein Lächeln nicht verloren hat. Es sagt keiner den dummen Spruch: "Das Leben geht weiter." Aber man spürt es im Strahl der Sonne, im Spiel des Schattens und in der Farbe der Rose: Die Welt ist untergegangen, und sie ist nicht untergegangen. Das Leben macht keine dummen Sprüche. Es zeigt, dass es weitergeht.