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Trauma-Land
Mit der Ukraine müssen wir Solidarität üben. Aber wir sollten auch versuchen, Russland zu verstehen.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
06.01.2023

Mein eindrücklichstes Leseerlebnis im vergangenen Jahr war Swetlana Alexeijewitschs „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ (zuerst veröffentlicht 2013). Es hat mir – leider mit Verspätung – die Augen geöffnet für die katastrophalen Entwicklungen in Russland von 1989 bis 1999. Jetzt zeigt eine ungeheuerliche BBC-Dokumentation die dazugehörigen Bilder.

Traumazone“ heißt eine BBC-Produktion, die man jetzt zum Glück auf Youtube sehen kann.

In sieben, jeweils einstündigen Kapiteln breitet sie ein sensationelles Filmmaterial aus, das die BBC über den Verfall der Sowjetunion, das Auseinanderbrechen des Imperiums, die Schock-Transformation in einen Raubtier-Kapitalismus und die Verwandlung in einen Gangster-Staat gesammelt hatte.

Lange hatte sich niemand für diese Archivalien interessiert, bis der Regisseur Adam Curtis auf sie stieß und ein überaus eindrucksvolles Mosaik aus ihnen komponiert hat.

Dabei lässt er vor allem die Bilder sprechen und fügt nur sehr sparsam, über Untertitel, Kommentare hinzu. Dieses Verfahren hat er in einem Interview mit dem „Guardian“ so erklärt:„Als ich mir das Filmmaterial ansah, beschloss ich, dass ich weder meine Stimme benutzen noch Musik darüberlegen sollte. Das Material ist so stark, dass ich mich nicht unnötig einmischen wollte, sondern die Zuschauer einfach miterleben lassen wollte, was passierte, denn genau daraus – aus der Wut, der Gewalt, der Verzweiflung und der überwältigenden Korruption damals – ist Wladimir Putin hervorgegangen.“

So kann man sehen, wie damals:

- ein irrsinniges Wirtschaftssystem zusammenbrach,

- alte Frauen in verschneiten Dörfern ums Überleben kämpften,

- Kunden in heruntergekommenen Läden erfuhren, dass es keine Kartoffeln mehr gab,

- Kinder auf der Straße betteln und in U-Bahn-Stationen übernachten mussten,

- die alte Nomenklatura vergeblich ihre Macht zu verteidigen suchte,

- Gangster ganze Autofabriken ausraubten,

- unterdrückte Länder wie Georgien oder Litauen für ihre Freiheit kämpften,

- Särge aus Afghanistan angeliefert wurden,

- der erste McDonald’s in Moskau eröffnet wurde,

- die Umwelt auf das Krasseste verschmutzt wurde.

Fasziniert, aber auch beschämt habe ich mir all diese Filmausschnitte angesehen. Manches kannte ich, hatte es schon damals verfolgt. Aber vieles war mir neu oder jedenfalls nicht in der katastrophalen Wucht klar gewesen. Auch hatte ich mir die verheerenden Auswirkungen des damaligen Systemkollapses nicht bewusst gemacht. Natürlich erklärt dieser Film nicht die heutigen russischen Verbrechen in der Ukraine. Schon gar nicht will er sie entschuldigen. Aber er lässt uns etwas sehen und erahnen, wovor wir in Westdeutschland zu lange die Augen verschlossen hatten.

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- "die Umwelt auf das Krasseste verschmutzt wurde."

Nur diesen einen Satz / nur dieser eine Punkt, denn die Umweltverschmutzung ist mit Kommunikationsmüll gleichermaßen auch in unserer Verantwortung, denn nur weil wir bezahlte Abnehmer in anderen Ländern haben, ist der Umgang mit Umweltverschmutzung auch von uns nicht vorbildlich-nachahmenswert, sondern ebenso der Weg in den Ruin.

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Mit der Ukraine müssen wir Solidarität üben. Und wir sollten auch versuchen, Russland zu verstehen. Zwischen die beiden ersten Sätze des Beitrags passt ein "und". Es gehört zur Geschichte, dass die Ukraine 1991nach einem Referendum ihre Unabhängigkeit von der UdSSR und damit von Russland erklärt hat, um einen anderen, demokratischeren Weg zu gehen, mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die Einzelnen und mehr Aussicht auf Wohlstand. Dass dieser mühevolle Weg erfolgreich war, ist ja gerade ein Grund für den Angriff Russlands auf die Ukraine. Fatal, dass die postsowjetische Geschichte von deutscher Seite so lange ausgeblendet wurde, aber nicht zu spät, sich jetzt damit zu beschäftigen. Deshalb danke für den Beitrag.

Antwort auf von Susanne Prill (nicht registriert)

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Wenn G. Schröder sagt: "Putin ist ein lupenreiner Demokrat", dann hat er recht, denn Russland wird auch regiert von korrumpierbaren "Treuhändern" der leichtfertigen Übertragung durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck.
Es gibt genauso Heuchelei, Lügen und Korruption für eine menschenUNwürdige "Werteordnung" in wettbewerbsbedingter Symptomatik, aber eben um vieles härter und skrupelloser.
Die Ukraine wurde bisher noch nicht in die westliche Welt aufgenommen, weil es wenig Unterschied zu Russland gibt!

Mit den Waffenlieferungen, die gegen unsere Gesetzmäßigkeiten erfolgten und den Krieg mit zuvielen Toten erst möglich machten, haben wir uns durch unsere parlamentarisch-lobbyistischen "Treuhänder" auch zu Mördern machen lassen!!!

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur