In der Gepäckabfertigung, wo Mörtel aus den Wänden rieselt und Pressspanplatten die eingeschlagenen Fenster sichern, singen sie das Heimatlied aus vollen Kehlen: "Mitten im deutschen Land, im Sachsengaue, wo golden steht das Feld, blühend die Aue", wo "vom Turme hoch hallen die Glocken", den "Wand’rer ins Gotteshaus locken", "Leisnig, mein Leisnig..."
Es ist ein ungewöhnlich buntes Deutschland, das da an diesem Septemberabend 2020 im alten Bahnhof zu Leisnig ohne Noten singt und musiziert. Es sind Laien und Berufsmusiker. Leisniger, die ihr Heimatlied auswendig kennen. Und Menschen, die kein Wort darin verstehen. In kurzen Hosen der 16-jährige Bahnhofsnachbar Kenny. An der Darbuka-Trommel eine Studentin der Islam- und Politikwissenschaft in Berlin, die aus Kairo stammt. Die Gitarre schlägt ein Polizist aus der Hauptstadt. Am Saxofon Musiklehrer Jens, aus Leipzig zugezogen. Maya aus London und Marlies aus der Leisniger Frauensportgruppe. Aus Kentucky der Metallbauer Dan, seit Jahren ein Berliner. Ein früherer slowenischer Staatsoperngeiger spielt Ukulele. Die portugiesische Organistin Jacinta, Kirchenmusikerin im schwäbischen Crailsheim, ist dabei. Und Steffi, Redakteurin bei der Lokalzeitung.
Sie alle proben für den "Tag der offenen Tür" zwei Tage später, für die Feier zur Wiederbelebung des 155 Jahre alten Bahnhofs in Leisnig, in dem zu DDR-Zeiten bis zu 120 Menschen im Drei-Schicht-Betrieb arbeiteten und der seit zwei Jahrzehnten leer steht, auch wenn noch täglich Züge halten. Der Posaunenchor bläst, der Bürgermeister soll eine Rede halten. Und das temporäre Bahnhofsensemble spielt nicht nur das Leisniger Heimatlied, sondern auch bulgarische Weisen im 7/8-Takt, irische Folksongs, aserbaidschanische Liebesschmonzetten, brasilianische Gassenhauer, türkische Trinklieder. Eine musikalische Globusumrundung im ländlichen Sachsen.
Die Geschichte des wiedererweckten Bahnhofs in Leisnig an der Mulde in Mittelsachsen, auf halbem Weg zwischen Leipzig und Dresden, ist eine Geschichte über Ost- und Westdeutsche, über Vielgereiste mit schillerndem Heimatbegriff und Menschen in der Provinz. Es ist die Geschichte eines Experiments. Ausgang: offen.
Stefan Scheytt
Christian A. Werner
Am Festtag ziehen die Musiker vom Bahnhof in der Unterstadt hinauf in die Oberstadt, die Geige unterm Kinn, Cello, Akkordeon und Trommel vor die Brust geschnallt. Fiedelnd und taktschlagend passieren sie alte Fabrikantenvillen am grünen Rand der Kleinstadt, kreuzen den "Lutherweg", ziehen durch die Gassen der Altstadt zum Marktplatz, vorbei an "No Nazis!"-Parolen auf bröckelnden Hauswänden, an toten Briefkästen und Fenstern ohne Gardinen. Dreißig Prozent Leerstand, in der Spitzengruppe beim Altersdurchschnitt in Sachsen, eine stetig sinkende Zahl von Einwohnern auf nur noch gut 8000 – so erzählt es der Bürgermeister. Der Polizeiposten ist nur noch an zwei Tagen in der Woche an jeweils zwei Stunden besetzt. Ende 2020 schloss die Geburtsklinik, es war kein Fachpersonal mehr zu finden.
Auf dem gepflasterten Marktplatzkarree hat zuletzt die AfD demonstriert, weil ihr das Rathaus städtische Räume für eine politische Veranstaltung verwehrte; ein paar Mal parkte hier ein Lkw-Fahrer demonstrativ sein Fahrzeug, auf dem in runenähnlicher Schrift "Führerhaus" stand. Jetzt spielt dort zwischen Blumenkübeln das temporäre Bahnhofsorchester auf, darunter die vier, die das denkmalgeschützte Gebäude im vergangenen Sommer kauften: Kathryn Döhner, eine energiegeladene Geigerin und Musikorganisatorin aus dem Schwäbischen, die in Brasilien und Irland lebte; Alireza Rismanchian, ein immerfreundlicher Architekt mit iranischen Wurzeln und deutschem Pass, der mit musikalischer Früherziehung nach Carl Orff aufwuchs und das d-Moll-Konzert für zwei Geigen des "Ostdeutschen" Bach mindestens so gut kennt wie iranische Volksmusik; Ofer Löwinger aus Israel, seit fünf Jahren in Berlin lebend, ein stiller Typ, der als Maschinenbauer so kreativ ist wie als Hobbymusiker vielfältig – er spielt Klavier, Akkordeon, Geige und Gitarre; der zurückhaltende Bassist und Pianist Christoph Schönbeck, Münchner mit amerikanischen Eltern, der seinen Zivildienst in Japan leistete, in England Musik studierte, ein Jahr in Australien lebte und zehn in Tschechien, der arrangiert und komponiert und Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet.
"Ich hatte keine Ahnung vom Osten, ich kannte nur ein Deutschland"
Zusammengeführt hat sie "Folklang", ein interkulturelles Folk-Orchester, das Kathryn Döhner im schwäbischen Tübingen 2014 mitgegründet hat. Seine bis zu hundert Mitglieder jeden Alters vom Anfänger bis zum Profi bringen sich die Musik ihrer Heimatländer nach Gehör gegenseitig bei. Für Ofer Löwinger, der als Klavierschüler mit Chopin und Tschaikowski aufwuchs, war sein erstes Folklang-Konzert wie eine Offenbarung: "Es war eine neue Welt, in der so viele Leute nur durch Zuhören voneinander lernen. Als ich das zum ersten Mal erlebte, war ich überwältigt und so froh, nach Europa gekommen zu sein." Nach vielen Aufführungen, Preisen und großem Medienecho entstand bei den vier Freunden der Wunsch, das gemeinschaftsstiftende Musikprojekt an einen festen Ort mit einem eigenen Gebäude zu binden. Sie fanden den Leisniger Bahnhof, der leer stand und bezahlbar war.
In den nächsten Jahren soll er sich in ein Kulturzentrum verwandeln, in einen Ort, an dem Laien- und Berufsmusiker aus aller Welt jammen und konzertieren, an dem sich Touristen und Radler auf dem Muldental-Radweg begegnen, ein wiedererwecktes Gebäude für Tanz- und Musik-Workshops, für die örtliche Musikschule, für kleine Läden und Büros, Gastronomie und Gästezimmer. Fragt man Ofer Löwinger, wie er sich den Bahnhof in ein paar Jahren im besten Fall ausmalt, antwortet er: "Alles ist schön renoviert, in vielen Räumen stehen Klaviere. Wenn im Café wenig Kunden sind, setz ich mich ans Piano und spiel ein bisschen. Ein Zug hält, Gäste kommen, die sich im Hostel eingemietet haben. Sie beginnen Jamsessions in der Schalterhalle, auf dem Bahnsteig, überall. Der Bahnhof ist voller Musik."
Bis es so weit ist, sind noch viele Hürden zu nehmen – derzeit schreiben die vier Gründer Bau- und Förderanträge, suchen Sponsoren. Die erste große Hürde tauchte schon vor dem Kauf auf: "Mir wurde klar, dass ich keine Ahnung vom Osten hatte, für mich gab es immer nur ein Deutschland", sagt Kathryn Döhner, mit 43 die älteste im Quartett. Die unmittelbarste und längste Erfahrung mit Ostdeutschland hat ausgerechnet Architekt Rismanchian, der nach seinem Bachelor im Iran zum Masterstudium nach Dessau kam.
Mit wachsendem Zweifel nahmen die vier Gründungswilligen Nachrichten aus diesem unbekannten Osten und vor allem aus Sachsen wahr, lasen das Buch "Der Riss" des westdeutschen Journalisten und Wahlleipzigers Michael Kraske über die Radikalisierung vieler Ostdeutscher. Sie erschraken über die Präsenz der AfD, die bei der Landtagswahl 2019 mit gut 28 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft wurde; und noch mehr über Berichte etwa der Heinrich-Böll-Stiftung oder des sächsischen Verfassungsschutzes, wonach rechte und rechtsextreme Kreise dazu aufrufen, sich als "völkische Siedler" im Osten und besonders in Mittelsachsen niederzulassen, um dort ungestört rechte Landlust auszuleben, Netzwerke zu pflegen und sich "in regionale Belange auf kultureller und politischer Ebene einzumischen".
"Wir glauben daran, dass Musik die Herzen aufmacht"
In einem der vierzig Ortsteile Leisnigs jenseits der Kernstadt, in denen meist nur einige Dutzend oder wenige Hundert Menschen leben, vertreibt ein Verlag "Waffenhefte des Heeres", Landserberichte und anderes einschlägiges Material. An einer Schule verteilte die NPD-Nachwuchsorganisation Junge Nationalisten vor zwei Jahren Propagandamaterial.
Die Parolen und Symbole der Rechten – und die Reaktionen ihrer Gegner von der Antifa – finden sich teilweise noch am Leisniger Bahnhof. Lange waren dessen Wände das "Kampfgebiet der Extremen", wie die Lokalzeitung schrieb. An einem Gebäude, in dem jetzt wieder Menschen wohnen, scheint der Reiz zur politischen Selbstverortung nachzulassen. Zumal die neuen Eigentümer ganz anderes umtreibt: "Unser Thema ist die Musik, nicht die Politik", sagt Architekt Rismanchian. "Wir glauben daran, dass Musik die Herzen aufmacht. In Berliner Kneipen, in denen wir jammten, habe ich das oft erlebt: Am Anfang reagieren die Menschen misstrauisch, wenn sie unsere Instrumente sehen, und am Ende wollen sie uns nicht mehr gehen lassen. Wenn es in Leisnig richtig losgeht, sollen alle kommen können: die Jungen, die Älteren, die Mitglieder des Schützen- oder des Heimatvereins, wer immer Lust auf Musik und Begegnung hat."
Die Erfahrungen der ersten Monate stimmen die Bahnhofsbesitzer zuversichtlich. Die Sympathien fliegen ihnen zu, sie seien überwältigt von der Hilfsbereitschaft, sagt Kathryn Döhner. Als im vergangenen Sommer die Aufräum- und Sicherungsarbeiten beginnen, bringen Leisniger schubkarren- und kofferraumweise Werkzeuge und Möbel, Duschkabinen, Nägel, Klopapier, Putzmittel, Geschirr, Kaffeemaschinen, Fensterkitt, Kohlebriketts. Aus Leipzig kommt das Angebot: "Ihr könnt einen alten Konzertflügel haben." Ein Ofensetzer bringt die Kachelöfen in Gang, Hobbyhandwerker drechseln neue Teile für die beschädigten Holzgeländer.
Eine der ersten Sympathisantinnen ist Hildegard Börnet. Gleich nach dem ersten Zeitungsbericht taucht die 79-jährige Leisnigerin mit einer Schüssel Kartoffelsalat im Bahnhof auf. "Ich bin einfach hingegangen, aus Neugier. Und dann hab ich die vier adoptiert." Seither kommt sie regelmäßig, bringt Essen, vermittelt eine gebrauchte Waschmaschine, selbst Unterwäsche hat sie ihren "Bahnhofskindern" und deren Helfern schon geschenkt. Auf ihrem Smartphone schaue sie sich oft das Video an vom ersten Abend am Lagerfeuer auf der kleinen Wiese neben dem Bahnhof. "Und an Heiligabend, als ich wegen Corona meine Töchter nicht besuchen konnte, haben mich die vier über Wasser gehalten." Zur Weihnachtsmusik am Ofen brachte Hildegard Börnet Feenküsse mit.
"Früher war ich nur Musiker und Sprachlehrer, hier lerne ich Holz hacken, Keller leer pumpen..."
Nach Berichten über den Fortgang am Bahnhof im "Sachsenspiegel" des MDR oder in der Lokalzeitung kommen immer neue Schwünge von Hilfslieferungen. Einmal stellt ein Nachbar eine Zimmertanne neben den Flügel in der früheren Schalterhalle, ein Briefchen mit Friedenstaube und 50-Euro-Schein klebt daran: "Den mutigen Bahnhofsmusikanten". Die Seniorentanzgruppe aus dem nahen Döbeln schreibt ins Gästebuch: "Ihr seid ein Geschenk für unsere Region! Viel Erfolg!"
Auf den setzt auch Bürgermeister Tobias Goth (CDU). Umso mehr, als aus den Plänen früherer Bahnhofsbesitzer aus der Schweiz und dem Allgäu nichts wurde. "Wenn die Einwohnerentwicklung nach unten geht, ist man froh, wenn von auswärts Leute kommen und was Gutes und Gemeinnütziges tun." Wie die vier im Ratssaal "als Gemeinschaft" ihre Pläne präsentierten, "offen und warmherzig, vor Enthusiasmus sprühend", das habe alle überzeugt, er höre nur Positives in der Bevölkerung, sagt der Bürgermeister.
Es tut sich was im Städtchen und seiner Umgebung. Sechs Minuten in der Regionalbahn von Leisnig nach Westen hat ein Ehepaar – beide aus Westdeutschland – den kleinen Bahnhof in Tanndorf renoviert und als "Bücherbahnhof" bekannt gemacht, wo man sich im ehemaligen Schalter- und Gepäckraum aus Kisten mit gebrauchten Büchern bedienen kann. Vier Minuten im Zug in die andere Richtung steigt man bei Elsbeth Pohl-Roux und Jürgen Pohl am Bahnhof Klosterbuch aus, die im Herbst einen Schulbauernhof eröffnen wollen.
Mitte Februar 2021 füttert Christoph Schönbeck kniend den Kachelofen im einzigen warmen Raum im 1500 Quadratmeter großen Bahnhof, an dessen Fenstern Eisblumen sprießen. "Früher war ich nur Musiker und Sprachlehrer", sagt Schönbeck, "hier lerne ich ständig Neues – Holz hacken, Keller leer pumpen, mit der Bank verhandeln, Business- plan schreiben, Website betreuen." In Leisnig habe er etwas gefunden, von dem er nicht wusste, dass es das in Deutschland noch gibt: einen Ort, an dem es ein bisschen freier und wilder zugehe, wo nicht alles längst verplant sei. "Man weiß nicht, was der nächste Tag bringt, das hier ist Abenteuer." Ausgerechnet im sächsischen Kleinstädtchen Leisnig kann sich der Mann, der in so vielen Ländern lebte, vorstellen, sesshaft zu werden. "Die Gegend ist wunderschön, die Stadt ist wunderschön. Ich laufe fast täglich durch den Ort, erkenne Leute auf der Straße, sie erkennen mich, man grüßt sich, man redet."
Sven Petry hat die Bahnhofsmacher noch nicht kennengelernt. Aber als er im vergangenen Sommer als neuer Superintendent des Kirchenbezirks ins Leisniger Pfarrhaus einzog – fast zeitgleich wie die Bahnhofskäufer in ihr Gebäude – und hörte, dass dort Sachspenden willkommen sind, ließ er einige Kisten mit Nützlichem aus dem Pfarrhauskeller von der Ober- in die Unterstadt bringen. Als Westfale, der seit zwölf Jahren Pfarrer im ländlichen Sachsen ist und als Ex-Mann der früheren AfD-Chefin Frauke Petry kennt er alle gegenseitigen Zuschreibungen und Vorurteile zwischen Wessis und Ossis, Linken und Rechten, Stadt- und Landbevölkerung. Er sieht die Abwanderung der Jungen und fragt sich, wie kleine Städte wie Leisnig ihre Infrastruktur erhalten können. Er sieht die weniger werdenden Taufen, die zunehmende Bereitschaft zu Kirchenaustritten selbst unter Hochbetagten, die spärlich besetzten Kirchenbänke am Sonntag. Er mache sich auch nichts vor über die Präsenz rechter und rechtsradikaler Kreise in Sachsen.
"Wenn sich Menschen engagieren, öffnen sich andere und machen mit"
Petry steht in seiner Kirche in Leisnig, der St.-Matthäi-Kirche, in der die Porträts seiner Vorgänger aus drei- hundert Jahren hängen. Mit sonorer Stimme und entspannter Geste wirbt er für Gottvertrauen: "Keine rosigen Aussichten für meine Kirche in Sachsen, und ja: schwierige Verhältnisse in der Gesellschaft. Aber wie es weitergeht, entscheiden wir ohnehin nur am Rande, das ist am Ende eine Frage von da oben." Petry setzt auf Vertrauen, er ist ein optimistischer Mensch und sieht die Chance, dass sich Verhältnisse wieder zum Besseren wenden. Warum nicht auch in Leisnig? Warum nicht durch den Bahnhof? "Wenn sich Menschen engagieren, öffnen sich andere und machen mit."
Der jüngste Mitmacher heißt Andreas Schützeneder aus Niederbayern, 34, ein Mann mit Vollbart, Hinguckertatoo auf dem Unterarm und Hinguckerschmuck im Ohrläppchen, der als gelernter Koch schon viel herumkam in der Welt: St. Moritz, Viersternehotel in Österreich, Permakulturprojekt in Spanien, Restaurantleiter in Leipzig... Und immer wieder verschlug es ihn ins ländliche Sachsen, in das er sich irgendwann verliebte, wie er sagt. Als er dann auch noch den Leisniger Bahnhof entdeckte und dessen Käufer, "Menschen in meinem Alter, die was reißen wollen", entschied er im Frühjahr einzusteigen. Seine erste eigene Gastronomie ist ein Imbisswagen, der direkt am Bahnhof steht. Im Gebäude ist es für eine stationäre Küche noch zu früh. Rings um den Bahnhofsbiergarten sprießen in den Kästen im Palettenzaun Petersilie, Schnittlauch, Minze und andere Kräuter. Auf Schützeneders Speiseplan stehen für den klassischen Bahnhofskunden Bratwurst und Burger aus regionaler Produktion, auch mal Bohnen-Kartoffel-Eintopf nach Leisniger Art. Und fürs jüngere Publikum vegane Bratwurst und vegane Burger. "Wir richten uns an den Gästen aus und fragen: Was wünscht ihr euch?"
Es gibt sie also doch noch:
Es gibt sie also doch noch: fröhliche, musikalische jüngere Menschen, die sich etwas zutrauen und die gerade dabei sind, aus einem halbverfallenen Bahnhofsgebäude im mittelsächsischen Leisnig an der Mulde ein Kulturzentrum zu machen. Respekt für das beispielhafte Engagement der aus ganz unterschiedlichen Kreisen und Herkunftsländern stammenden Idealisten, die zweierelei eint: die Freude an der Musik und der Wunsch, gemeinsam Großes zu gestalten. Dass sie sich dabei täglich handwerklich ebenso bewähren müssen, wie sie als Musiker mit Spiel und Gesang ihre Mitmenschen erfreuen dürfen, spricht für die kleine Mannschaft und lässt hoffen, dass sie ihr Ziel, aus dem alten Gemäuer ein Zentrum kultureller Begegnung zu machen, auch erreicht. Die bunt zusammengewürfelte Gruppe unter Leitung ihrer wohl ein wenig lebenserfahreneren Kathryn Döhner gibt mit ihrem Projekt ein Beispiel dafür, wie auch andernorts in den neuen Ländern oder sonstwo aus heruntergekommenen Gebäuden etwas sinnvolles Neues entstehen könnte - wenn sich die richtigen Leute begegnen und bereit sind, dafür viele Mühen auf sich zu nehmen. Der musikalischen Arbeits- und Wohngemeinschaft ist zu wünschen. dass ihr Projekt über die Grenzen Leisnigs hinaus Erfolg hat. Vielleicht kann es auch zum besseren gegenseitigen Verständnis von Alteingesessenen in dem Städtchen und den "Neu-Leisnigern" beitragen.
Manfred H. Obländer, Königswinter
Mit besten Grüßen
Manfred H. Obländer
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Liebe Chrismon-Redaktion,
Liebe Chrismon-Redaktion,
gestern las ich den Artikel „Mit Mut, Musik und Hipsterdutt“ (Stefan Scheytt), dann schaute ich mir den Titel der Ausgabe mit den Sprechblasen genauer an. Daraufhin schlug ich das Magazin kopfschüttelnd zu und verbringe nun eine Stunde meines Urlaubs mit einer Kurzrezension.
Betrachtet man das Titelbild des Beitrags klingen sofort Erinnerungen an eine ärmliche Region in Südosteuropa an, ein Pferdewagen mit Musikanten vor teilweise heruntergekommenen Fassaden. Aber nein, es ist Sachsen! Dann kommen kosmopolitisch-liberale Weltbürger in die Provinz und sind nun die Hoffnung eines 8.000 Seelen Ortes, in dem jahrelang gelechzt wurde nach geistiger Nahrung in einem Umfeld von lauter AfD-Sympathisanten. Die Erleichterung eines Teils der Bevölkerung scheint mit den Händen greifbar zu sein.
Die Grundierung des Beitrags könnte nicht selbstgefälliger sein. Dort die arme, demographisch, wirtschaftlich und geistig abgehängte, rechtsideologischen Gedanken nahestehende ostdeutsche Bevölkerung, auf der anderen Seite die aufgeschlossenen weltläufigen Zuzügler, die mit einer Geige und einem Akkordeon den Landstrich wieder auf Vordermann bringen möchte. Ok, ein paar Wohlgesonnene, eine 79-jährige, hier und da noch ein paar mehr... Ich vermute, dass die Musiker diesen Artikel ähnlich erstaunt aufnehmen wie ich. Denn insbesondere die herablassende Haltung des Autors vor schöner geistiger und moralischer Kulisse, die hier den Ton angibt, bleibt im Ergebnis bei einem aufgeklärten Leser hängen. Und genau an diesem Punkt werden die Gräben zwischen Ost und West tradiert und zur Folklore ausgebaut, ausgewälzt und in steter Übung weiter verinnerlicht. Dass die Redaktionsleitung so etwas drucken lässt, ist unerklärlich.
Aber noch bezeichnender ist gleich das Titelblatt. Jede von der Mitte abweichende Meinung, ganz gleich wie absurd, abwegig, blöd oder was auch immer - muss im Wege der Gesprächstherapie möglichst wieder zurückgeführt werden, damit das Fundament der Mitte bloß keine Risse erhält. In den USA reagieren die Menschen auf „quere" Meinungen mit „interessant“, in Deutschland darf man sich auf paternalistisch freundliche Weise schelten lassen, damit man wieder ein akzeptiertes Mitglied der Gemeinschaft sein kann. Bereits Anfang der fünfziger Jahre - wie kürzlich zu lesen war - hatte die EKD, für die das Magazin „chrismon“ erscheint, wenn ich richtig informiert bin, bereits den Pfad der Mitte propagiert. Gemeinsam mit der katholischen Kirche wurde sich stark gemacht für groß-angelegte Begnadigungen von SS-Kriegsverbrechern in Landsberg (Bayern), die nachweislich verantwortlich für die Ermordung von hunderttausenden Juden waren. Das war eine sehr mittige Haltung zur damaligen Zeit.
Auf einen weiteren Artikel (Sagt was! Tut was!) will ich hier gar nicht mehr näher eingehen, hier werden Rechtsextreme, Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner in eine Schublade gesteckt. Das ist doch noch mehr Quark, doppelte Fettstufe sogar.
Auch ich bin der Auffassung, dass in unserer heutigen demokratischen Gesellschaft, die vernünftigsten Lösungen aus der Mitte heraus entstehen, dennoch wünsche ich mir, dass Meinungen, die aus dem Spektrum herausfallen respektiert und viel ernsthafter auf den Kern geäußerter Kritik hin durchleuchtet werden, selbst wenn sich jemand in Ton und Sprache vergreift. Aber das kostet eben mehr Arbeit. Oder aber man wählt einen anderen Weg und setzt sich nicht dem Druck alles bewerten zu müssen aus, wozu es hier im Land nach wie vor eine obsessive Passion gibt. Wichtiger scheint mir die Auseinandersetzung mit den wirklichen Lebensrealitäten der Menschen. Chrismon könnte doch eine Beitrag vor den Bundestagswahl zu einer fairen Rente veröffentlichen. Z.B. wie die teilweise Aufhebung des Äquivalenzprinzips in der Rentenversicherung zu mehr Gerechtigkeit führen könnte. Wesentlich wichtiger als auf die Art und Weise des Diskurses mit Meinungsminderheiten zu fokussieren. Aber verständlich, auch das macht mehr Recherche erforderlich und ist vielleicht sogar unangenehm für die elitäre Leserschaft des oberen Gehaltssegments, dann doch lieber „Hippsterdutt-Themen“ für das „betreut-dahindämmernde“ (Sloterdijk) Volk.
Schönen Tag.
Freundliche Grüße
Hassan Tenekedshijew
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