- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Eine enge Wohnung, mehrere Kinder im schulpflichtigen Alter und jünger, für das Homeschooling nutzen alle das Smartphone der Eltern mit Prepaidkarte. Ein ruhiger Arbeitsplatz, ein Drucker für all die Arbeitsblätter, die auf der Lernplattform eingestellt sind? Fehlanzeige. Berichte in den Medien über Familien mit solchen Schwierigkeiten gehen mir nicht aus dem Kopf. Selbst wenn diese Familien von den inzwischen angelaufenen Förderprogrammen profitieren und die Schulkinder mit Laptops für das digitale Lernen ausgestattet sind: Am Wohnzimmertisch mit kleinen Geschwistern drumherum fällt es sicherlich viel schwerer, sich auf Hausaufgaben zu konzentrieren, als im eigenen Kinderzimmer.
Irmgard Schwaetzer
Momentaufnahmen wie diese, digital vermittelt wie die meisten Erfahrungen, die wir derzeit machen, zeigen: Die Pandemie trifft diejenigen härter, die es auch vorher schon schwer hatten. Das gilt nicht nur für die Bildung: Es sind die Minijobberinnen und Kurzarbeiter, die Soloselbstständigen und Kleinunternehmer, die am häufigsten in finanzielle Not geraten. Und es sind die Menschen mit geringen Einkommen, deren Arbeit sich nicht aus dem Homeoffice erledigen lässt und die in beengten Verhältnissen leben, die das höhere Infektionsrisiko tragen. Ungleichheit und Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft treten hier offen zutage.
Besonders bitter ist, wie sich diese Ungerechtigkeit auf Kinder und Jugendliche auswirkt. Dass unser Bildungssystem ungleiche Startchancen nur bedingt ausgleicht, ist nicht neu. Seit Jahrzehnten diskutieren Bildungsexperten darüber, wie die Politik dies ändern könnte. Durch die Bedingungen der Pandemie und die mangelnde Digitalisierung vieler Schulen spitzt sich die Situation zu. Nun stellt sich erst recht die Frage, wie alle Kinder im Unterricht mitgenommen werden können. Dabei hängt davon auch unser aller Zukunft ab. Wir können es uns nicht leisten, Kinder zurückzulassen, wirtschaftlich nicht und erst recht nicht gesellschaftlich. Doch Kindern aus armen, bildungsfernen Familien, die in der Schule hinterherhinken, wird es schwerfallen, in der zukünftigen, auf Flexibilität und ständiges Lernen setzenden digitalisierten Arbeitswelt mitzuhalten.
Chancengleichheit ist zentral für die Demokratie
Unsere Gesellschaft löst das Versprechen auf Chancengleichheit nicht ein. Dieses Versprechen ist zentral für eine demokratische Gesellschaft und ihren Zusammenhalt. Hier braucht es eine große Kraftanstrengung von staatlicher Seite, um Kitas und Schulen endlich so auszugestalten und auszustatten, dass alle Kinder wenigstens dort die annähernd gleichen Möglichkeiten haben.
Um die unmittelbaren Folgen der Pandemie abzufedern, müssen wir schnell sein und zugleich sehr individuell fördern. Studien zeigen, dass der Lockdown Kinder und Jugendliche mehr beeinträchtigt als uns Ältere. Nicht nur, weil Bildung ein entscheidender Faktor für ihre Zukunft ist und ihre Schulbildung derzeit leidet. Sondern auch, weil es in ihrer Entwicklung nun einfach "dran" ist, die Welt zu entdecken und mit Menschen zusammen zu sein, die nicht ihre Familie sind. Dass Kinder und Jugendliche zu Hause bleiben, um nicht nur sich selbst, sondern vor allem die anderen zu schützen, ist ein großer Solidarbeitrag.
Schauen wir, wie wir umgekehrt ihnen gegenüber solidarisch sein können. Gerade wir Älteren, die nicht mehr im Beruf stehen und deren Aufgaben weniger geworden sind, können helfen, Defizite auszugleichen, die viele Monate Lockdown bewirkt haben. Lesebegleitung, kostenlose Nachhilfestunden, individuelle Unterstützung beim Homeschooling per Telefon oder Videoanruf: Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
Anmerkung der Redaktion: Das ist Irmgard Schwaetzers letzte chrismon-Kolumne. Im Mai hat sie ihr Amt als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland abgegeben und ist nun auch nicht mehr chrismon-Herausgeberin.
Bildungsoffensive
Sehr geehrte Frau Irmgard Schwaetzer,
mit großem Interesse habe ich Ihre Kolumne "Jetzt sind wir Älteren gefragt" gelesen. Ich kann Ihre Worte nur unterstützen. Ich habe mich in meiner Funktion als Vorsitzender des Stadtverbandes Bonn der Lehrergewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) ebenfalls für eine Bildungsoffensive stark gemacht und meine Heimatstadt Bonn aufgefordert die Bemühungen zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen zu verstärken.
Auch aus meiner praktischen Erfahrung als Lehrer beobachte ich zur Zeit, wie groß die Lerndefizite aber auch die Beeinträchtigungen im sozial-emotionalen Bereich nach 15 Monaten Corona-Pandemie sind. Wir Lehrkräfte sind zur Zeit schon oft an den Grenzen unserer Belastung angekommen und werden sicherlich nicht alleine diese Ungerechtigkeiten im Bildungssystem beseitigen können. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Personen wie Sie nun die Initiative ergreifen und ein 'Bildungsruck' durch unsere Gesellschaft geht.
Nochmals vielen Dank für diese Kolumne. Bitte nutzen Sie auch in Zukunft Ihre prominente Stimme, um auf die großen Herausforderungen im Bildungssystem hinzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Rolf Haßelkus
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können