privat
Abschied von einem Pappkameraden
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
23.06.2019

Nachdem fünf Landtagsfraktionen der AfD ein kirchenkritisches Papier veröffentlicht hatten, in dem ich die Ehre hatte, als Hassprediger entlarvt zu werden, fragte mich die Nachrichtenagentur „idea“, was ich von dem Vorwurf hielte, dass die evangelische Kirche mit dem „rot-grünen Zeitgeist“ paktiere. Dies ist meine Antwort (hier noch einmal für die, die nicht regelmäßig „idea“ lesen).

Der Begriff „Zeitgeist“ besitzt eigentlich eine reiche Tradition. Große deutsche Denker von Herder bis Hegel haben versucht, mit ihm der eigenen Gegenwart auf den Grund zu gehen. Doch wie soll man den Geist der Zeit deuten, deren Teil man ist? Kein Mensch existiert ja jenseits von Raum und Zeit. Noch schwieriger wird es, wenn die Gegenwart unübersichtlicher wird und es nicht mehr nur einen, sondern viele, sehr unterschiedliche Zeit-Geister gibt. Da ist ernstes, differenziertes Nachdenken gefragt. Doch das scheint heute vielen zu anstrengend zu sein. So ist bei uns inzwischen dieser einstmals ehrwürdige, aber nicht unproblematische Begriff zu einem tief gesunkenen Kulturgut geworden, ein Zeichen des allgemeinen Bildungsverfalls. Heute existiert er nur noch als polemische Plattitüde erregter Meinungshändler. Sie nutzen ihn als Verleumdungsfloskel, mit der sie ihr Empörungsgeschäft am Laufen halten: „Zeitgeist“ – das sind immer nur die anderen, die Verworfenen, von denen man sich als vermeintlich politisch-moralisch-religiös Höherstehender abhebt. Man selbst ist ja wundersamer Weise von den Geister seiner Zeit gänzlich unberührt. Dieser rein aggressive Gebrauch des Begriffs mag der eigenen Ego-Stabilisierung dienen, eröffnet aber kein Verständnis der Gegenwart, leitet zu keiner ehrlichen Selbsteinsicht an, ermöglicht keine Verständigung mit anderen. Deshalb empfehle ich (auch der Redaktion von idea), sich von diesem semantischen Pappkameraden zu verabschieden. Besser ist es, wenn man sich an dieses Paulus-Wort hält: „Prüft alles und das Gute behaltet.“

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"Sie nutzen ihn als Verleumdungsfloskel, mit der sie ihr Empörungsgeschäft am Laufen halten: ..."

Im Zeitgeist, der sich nun zum "freiheitlichen" Wettbewerb reformiert hat, ist Schuld- und Sündenbocksuche (immernoch) nun Teil des "gesunden" Konkurrenzdenkens.

Damit kein Missverständnis entsteht, denn ich bin kein Anhänger von zeitgeistlicher Politik, der Zeitgeist ist das kreislaufende ERGEBNIS menschlich-instinktiver Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und "Individualbewusstsein" nach der "Vertreibung aus dem Paradies" (Mensch erster und bisher einzige geistige Evolutionssprung): GEISTIGER STILLSTAND in Hierarchien des stets gleichbleibenden imperialistischen Faschismus, anstatt Vernunftbegabung gottgefällig zu menschenwürdigem Verantwortungsbewusstein zu fusionieren (geistig-heilendes Selbst- und Massenbewusstsein), für Geist/Seele "wie im Himmel all so auf Erden".

Die "Verleumdungsfloskeln" sind ALLGEGENWÄRTIG!!!

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur