...ist Frau V. nur noch eine anonyme Stimme. Einfach zuzuhören, das musste sie erst lernen
Viele Anrufer weinen erst mal nur. Oder sie schweigen. Das konnte die ehrenamtliche Telefonseelsorgerin, die im wirklichen Leben Bankerin ist, am Anfang nicht so gut aushalten. Jetzt schon
07.10.2010

Gestern hatte ich Nachtdienst in der Telefonseelsorge. Eigentlich wäre ich lieber ins Bett gegangen, ich bin ja berufstätig, arbeite tagsüber als Geld- und Devisenhändlerin in einer Bank. Doch als ich bei der Telefonseelsorge ankam, war die Müdigkeit erst mal weg. Schon der Moment, wenn ich die Tür aufschließe, ist besonders. Es ist ein geheimer Ort, draußen hängt kein Schild. Ich tauche in eine andere Welt ein, lasse meinen Alltag hinter mir. Für die Anrufer habe ich keinen Namen, kein Gesicht, kein Alter. Ich bin nur eine Stimme am Telefon.

Telefonseelsorge

Sorgen kann man teilen. Mit der Telefonseelsorge. In schwierigen Lebenssituationen hilft es, sich jemandem anzuvertrauen. Anonym und rund um die Uhr. Der Anruf ist kostenfrei: 0800/111 0 111  und 0800/111 0 222

Bis 24 Uhr hatte ich gut zu tun, vier Anrufe, davon eine Frau, deren Mann gerade gestorben ist. Sie hat viel geweint, und ich habe sie weinen lassen. Das musste ich lernen, nicht gleich mit Ratschlägen zu kommen. Am Ende war ihre Stimme schon etwas fester, und wir haben überlegt, wo sie Hilfe bekommen kann. Um eins wurde es ruhiger. Ich habe mich hingelegt und das Licht ausgemacht. Ich mag diese Stimmung nachts in der Telefonseelsorge. Es ist ganz still. Ich hänge meinen Gedanken nach. Ab drei klingelte das Telefon wieder öfter. Ein paar missbräuchliche Anrufe, die mich ärgern. Um vier eine Frau, die fand, dass die Freundin ihres Sohnes einen schmutzigen Namen habe. Wie bitte? Die Nacht ist für Notfälle da. Als ich sagte, dass ich ihr Problem nicht verstehe, hat sie aufgelegt.

Seit fünf Monaten arbeite ich in der Telefonseelsorge, zwölf Stunden im Monat. Manchmal komme ich direkt von meiner Arbeit in den Dienst. Dann heißt es umschalten: von Telefonaten mit Bankkunden zu Gesprächen über Trennung, Einsamkeit, finanzielle Sorgen. Darum geht es meistens. Probleme, die jeder kennt. Umso schwerer ist es dann, einfach nur zuzuhören. Man denkt ja gleich immer, kenn ich, hat Ratschläge parat. Aber das lässt den anderen verstummen. Bei der Telefonseelsorge geht es darum, dass die Anrufer über ihre Gefühle sprechen können.

Gelernt habe ich das in der Ausbildung: ein Jahr intensive Selbsterfahrung. Ich war neugierig, hatte Zeit. Meine Kinder sind groß. So fand ich mich in einer Gruppe von fremden Leuten wieder, denen ich am Anfang jedes Treffens mitteilen sollte, wie es mir geht. Oder wir übten in verteilten Rollen telefonieren. Ich fand das befreiend, denn da kam vieles ans Licht, was einem nicht bewusst war. Bei mir die uralte Angst, alleingelassen zu werden.

Andere in der Gruppe wollten helfen und nicht über sich nachdenken. Das geht aber nicht. Ich muss erkennen, wie ich auf die Gefühle von anderen reagiere. Wenn ein Anrufer über Einsamkeit spricht und ich schroff reagiere, liegt das vielleicht daran, dass ich selbst mit Verlassenheitsängsten kämpfe. Gleich bei meinem ersten Telefondienst sprach eine Frau über die Trennung von ihrem Mann. Ich dachte: O Gott, bloß nicht, habe ich selbst alles erlebt! Aber ich schaffte es, das nicht wegzudrücken. Und konnte so ganz ehrlich sagen, dass ich weiß, wie schwer so eine Trennung ist.

Die meisten Anrufer bedanken sich

Viele Anrufer weinen erst mal nur. Oder schweigen. Das konnte ich anfangs nicht so gut aushalten, ich bin gleich mit einer Frage dazwischengegangen. Jetzt kann ich besser warten. Ich glaube, dass ich meine Aufgabe inzwischen ganz gut mache. Die meisten Anrufer bedanken sich. Ich bin auch nicht der Typ, der dauernd mit sich hadert. Nur wenn Kinder anrufen und ernste Anliegen haben, bin ich oft verunsichert. Die fragen immer: Was soll ich denn machen? Sie brauchen wirklich Hilfe. Neulich hörte es sich so an, als ob ein Junge beim Auflegen schluchzte. Oder war es ein Lachen? Das ließ mich tagelang nicht los.

Überwiegend rufen aber Erwachsene an. Anfangs dachte ich noch, haben die denn niemanden zum Reden? Dann wurde mir klar, dass sich so viele an die Telefonseelsorge wenden, weil sie anonym ist. Es ist viel leichter, sich schwach gegenüber jemandem zu zeigen, der einen nicht kennt. Nur kann das auch ins andere Extrem umschlagen: Es gibt Menschen, die uns regelmäßig anrufen und uns ihr Leid klagen. Manchmal ist es schwer, wenn Anrufer auf alles mit "Ja, aber" antworten. Zu denen muss ich dann auch mal Nein sagen, ich will jetzt nicht mehr zuhören.

Protokoll: Ariane Heimbach

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Ich habe deprission und hatte mich vor mich selbst zur verletzen was soll ich machen

Antwort auf von Regina (nicht registriert)

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Hallo Regina,

bitte wenden Sie sich an die Telefonseelsorge. Unter der Nummer 0800/111 0 111 wird Ihnen anonym und kostenfrei geholfen!

https://www.telefonseelsorge.de/