Anfänge
Anne Moldenhauer
Die plustern sich, dann unterhalten wir uns
Das erste Jahr nach dem Tod seiner Frau war schwer. Nun turnt er, isst Salat und hat ein Hobby: Hühner
undefinedNicole Malonnek
26.06.2019

Christoph Moldenhauer, 89:

Mit 80 sprang ich noch über die ­Tische. Mit fast 90 knistert und knackt es überall. Man muss schon gegen­halten, sonst lässt man sich los, sonst will man die 100 nicht mehr vollmachen. Morgens mache ich Streck­übungen für das steife Knie. Nachmittags bringt mir mein Sohn, der hat so wenig Zeit, oft seinen Hund. Mit dem laufe ich den Berg hoch durch den Wald.

Einmal die Woche gehe ich abends zum autogenen ­Training. Meine Schwiegertochter hat mich dort ange­meldet, da muss ich hin. Ich bekam den Platz vorne ­wegen meiner schlechten Ohren. Man legt sich auf den Boden, ­eine Stimme spricht leise vom Band, dann muss man ­richtig atmen und entspannen. Ich schlafe so gut wie ein. Danach sind die Schmerzen in den Gliedern weg.

Weil die Oma, also meine Frau, Diabetes hatte, gingen wir jahrelang gemeinsam zu Vorträgen über Zucker. Seit sie tot ist, gehe ich alleine hin, man lernt dort so viel. Frucht­zucker, Unterzucker, zu viel Zucker. Wie der Diavortrag neulich zu Ende ging, sagte der Doktor zu mir: "­Schöne Grüße an Ihre Frau!" Ich wollte nicht sagen: "Meine Frau ist schon über ein Jahr tot." Ich wollte nicht, dass die Leute 
lachen. So fragte ich ihn einfach, woher mein morgend­licher Schwindel kommt. Er zeigte mir, wie man eine Minute 
auf einem Fuß stehen kann, ohne umzufallen. Das mache 
ich jetzt zu Hause auch, ich muss jedes Mal lachen dabei.

65 Jahre waren wir zusammen, die Oma und ich

Die Oma und ich, wir wollten gerade eiserne Hochzeit feiern, 65 Jahre waren wir zusammen. Aber das wurde nichts mehr. Ich kannte sie schon, da trug sie noch Zöpfe und war gerade von Danzig nach Schleswig-Holstein geflohen. Die letzten zehn Jahre war sie blind. Ich spannte eine Schnur vom Schlafzimmer ins Bad, damit sie nachts nicht ins Wohnzimmer läuft, wenn sie zur Toilette muss. Oft musste ich zwei- oder dreimal nachts raus für die Oma, manchmal schrie sie auch.

Der Hühnerstall
Jetzt ist ihr Platz leer, und ich kann ihren Tod nur schwer überbrücken. Im Alter hängt man viel enger zusammen als in jungen Jahren. Im Alter muss man um jedes Jahr kämpfen. Um die Oma habe ich viele Tränen vergossen.
Mein Enkelchen, die Anne, schenkte mir drei Hühner, damit ich ein Hobby habe. Das war ein Schreck. "Was soll ich denn mit Hühnern anfangen?", fragte ich. Die Anne sagte: "Wir bauen einen Schäferzaun in deinen Garten, um den Apfelbaum herum. Du wirst sehen, Hühner sind super." Sie brachte ein Häuschen mit. Unten die Sitzstange, oben der Liegekasten, da schlafen sie eng aneinander.

Morgens um acht Uhr gehe ich im Schlafanzug raus und bringe den Hühnern Salat. Ein halber Kopf für mich, ein halber für die Hühner, klein gehackt. Vitamine müssen sie haben. Gestern kriegten sie auch meine Kartoffeln vom Mittag. Zu viele Kohlenhydrate sind schlecht für mich, ich will den Bauch wegkriegen. Fünf Kilo müssen runter. Um sieben Uhr abends esse ich das letzte Mal und dann bis mittags um zwölf Uhr nichts mehr. Intervallfasten nennt man das. Das hält man nicht lange durch, so schwer ist das.

Ein Huhn bekam Durchfall, ich musste es schlachten lassen

Meine Hühner werden von mir versorgt, als wären sie meine Kinder. Die stehen auf einem Bein, wenn ich komme, und plustern sich, und dann unterhalten wir uns. Nur grasen sie alles ab, man muss den Zaun ständig 
weiter verrücken. Ein Huhn bekam Durchfall, ich musste es schlachten lassen, damit es die anderen nicht ansteckt. Das war ein Ding. Hühner sind wirklich ein schönes Hobby.

Christoph Moldenhauer versorgt seine Hühner, als wären es seine Kinder.
Seit die Oma tot ist, gehe ich zur Fußpflege, ich nehme jetzt ihre Termine wahr. Man kommt in einen Stuhl, ­Füße hoch, und schon schleifen sie einem die Hornhaut ab. ­Danach fühlen sich die Füße leicht an, und unter die ­Zehen kommen Polster, damit die Druckstellen nicht scheuern. Das ist schon toll, was man alles so machen kann.

Man muss auch alles mitmachen, wenn man nicht eingehen will. Ich will gesund bleiben, ich will in meinem Haus bei den Hühnern wohnen. Hier wächst mein eigener Salat, hier gefällt es mir gut. Bei der Gesundheitsmesse war ich neulich auch, da habe ich zum ersten Mal eine Thaimassage bekommen. Diese Frauen können massieren, das glaubt man nicht. Die Anne, meine Enkelin, sagte: "Opa, geh da mal hin!" Ohne die Anne und meinen Sohn hätte ich das letzte Jahr nicht geschafft, als der Platz von der Oma morgens so leer war. Ich hatte ihr immer das Frühstück gemacht.

Protokoll: Silia Wiebe

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Sehr geehrte Damen und Herren,
Der Bericht hat mich sehr berührt und auch Mut gemacht, dass das Leben so viel bietet und ermöglicht wenn man es sehen und erfahren will. Meine Hochachtung gilt Christoph Moldenhauer. Ich wünsche ihm noch viele schöne Erfahrungen.

Mit freundlichen Grüssen
Bruno Sigrist

Permalink

Liebe chrismon - Redaktion,
beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses des neuen Heftes ist mir der Text zum Artikel auf S. 46 sauer aufgestoßen:
das klingt für mich so, als sei seine verstorbene Frau sein Hobby gewesen und sei nun durch Hühner ersetzt worden!
Im übrigen ein sehr lesenswerter und anrührender Artikel, für den ich mich bedanke.
Mit freundlichen Grüßen!
Karin Specht

Permalink

Wunderbare Sprache, die alles transportiert, worum es geht: Respekt vor dem Schmerz und der Trauer und dem Leben, das gelingen kann, wenn es gelebt wird...
Danke!
Ute Neumann-Beeck

Permalink

Sehr geehrte Frau Wiebe,
Oma, die meine Frau ist, sagte: "Das musst Du lesen." Sie kennt mich nach mehr als 50 gemeinsam gelebten Jahren, und sie hatte mit ihrer Empfehlung (natürlich) recht. Ihr einfühlsames und stilistisch überragendes 'Protokoll' schafft es auf kleinem Raum, die Trauer und den Trost des Erzählers abzubilden.
Herzlichen Dank
Friedrich Giesenhagen