Reformatoren vor Luther: ­John Wyclif, Petrus Valdes, Jan Hus. Viele ihrer Forderungen sorgten für helle Aufregung
Foto: Alexander Hoernigk, Immanuel Giel
Eine verblüffende Entdeckung
In Lyon, Oxford und Prag formulierten kritische Christen schon vor dem Wittenberger ähnliche Thesen
Lena Uphoff
09.10.2016

Martin Luther staunte nicht schlecht, als er 1520 die Texte des Jan Hus las. Der Theologe aus Prag war 1415 ­als ­Ketzer während des Konstanzer Konzils auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Seinem Freund Georg ­Spalatin schrieb Luther: „Ich habe bisher unbewusst den ganzen ­Johann Hus gelehrt und gehalten . . . Kurz, wir alle sind unbewusst Hussiten. Ja, ­Paulus und Augustin sind aufs Wort Hussiten. ­Siehe, ich bitte dich, in was für Ungeheuerlichkeiten sind wir ohne den böhmischen Führer und Lehrer geraten: Ich weiß vor Staunen nicht, was ich denken soll, da ich so schreckliche ­Gerichte Gottes an den Menschen sehe. Die ganz offenbare ­evangelische Wahrheit, nun schon vor mehr als hundert Jahren öffentlich verbrannt, wird für verdammt ge­halten, und man darf dies nicht bekennen.“

Die vier Grundanliegen des Jan Hus ent­sprachen Luthers Erkenntnissen: Bestrafung der Todsünden – wie Ehebruch und Mord – ohne Ansehen von Stand und Person; Ende der weltlichen Herrschaft von Priestern und Bischöfen; Abendmahl für alle Menschen in beiderlei Gestalt, also in Brot und Wein; freie Predigt des Wortes Gottes in der Sprache des Volkes.

Das "protestantische Prinzip"

Also steht Hus am Anfang der Reformationsgeschichte? Nein, meinte der Theologe Paul Tillich (1886–1965). Die Geschichte des Juden- wie des Christentums sei geprägt vom „protestantischen Prinzip“. Die Tempelpriester im Alten Testament, im Christentum Bischöfe und Päpste, vertreten die Bedeutung der Tradition, der herrschenden Interpretation des Wortes Gottes. Dann melden sich auf eigene Verantwortung Propheten zu Wort und sagen: „Halt! Das kann nicht so bleiben. Das müssen wir ändern!“ Wenn sie Glück hatten, wurden aus solchen Kritikern Helden und Heilige. Die meisten hatten Pech und wurden als Ketzer verfolgt. Es sei denn, ein Mächtiger hielt schützend seine Hand über sie.

Vor Martin Luther zählte der Brite John Wyclif (etwa ­1300– 1384) zu jenen, denen solches widerfuhr. Dem britischen König Eduard III. gefiel Wyclifs These gut, dass das Papsttum keine weltliche Herrschaft beanspruchen könne. So lebte des Königs Günstling in Wohlstand, während er für die Kirche eine Existenz in Armut forderte. Seine Schriften gegen Zölibat, Heiligen-, ­Reliquien- und Bilderverehrung wurden in den Universitäten ­Oxford, Prag oder Paris gelesen und heftig diskutiert.

An die Kritiker erinnern

Einen anderen Weg hatte der Kaufmann Petrus Valdes (1140– 1217) aus Lyon eingeschlagen. Aus Neugier hatte er begonnen, ­die Evangelien zu lesen. Die Lektüre veranlasste Valdes dazu, sein Leben total zu ändern. Er trennte sich von seinem riesigen Vermögen, lebte fortan in Armut und zog als Wanderprediger durch seine Heimat. Dass der Exkaufmann gegen Heiligenverehrung, kirchlichen Reichtum und päpstliche Macht wetterte, konnte den Herrschenden nicht gefallen. Valdes und seine Gemeinde wurden verfolgt. Die „Waldenser“, wie man die Anhänger des Lyoner Refor­mators nannte, wurden auf dem Konzil in Verona 1184 aus der ­Kirche ausgeschlossen und flohen zu Tausenden in die Bergre­gionen der Alpen oder in unbewohnte Gegenden bis an die Donau.

Waldenser, Hussiten, Lutheraner, Reformierte und andere ­Protestanten bilden heute eine kirchliche Gemeinschaft. Eine ­ihrer Aufgaben ist es, die Erinnerung an jene zu pflegen, die vor und neben Martin Luther ein allein an den Texten der Bibel orientiertes Christentum forderten und es lebten.

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Die Erwähnung eines der großen Vorläufer der Reformation, dessen Bedeutung Martin Luther selbst mit starken Worten hervorhebt, läßt mich darüber staunen, wie die EKD sich dem Gedenken des Jan Hus im vergangenen Jahr - immerhin der 600. Jahrestag seines gewaltsamen Todes - so einfach entzogen, besser gesagt verweigert hat. Offensichtlich ist alles so stark auf die Person Luthers fixiert, daß man keinem anderen Reformator neben ihm die gebührende Anerkennung geben kann. Schade. Ein bißchen Käsmann in Prag, ein paar kleine Artikel in der Fachpresse - das war´s. Wie eben üblich bei der EKD: Eine verpaßte Chance, auch im Blick auf das deutsch-tschechische Verhältnis.

Helmut Reichert / Markus Wendebourg

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 „Es ist noch kein Reformator vom Himmel gefallen!“ weist darauf hin, dass jeder Reformator beeinflusst wurde von Vorgängern, Gegnern, dem Zeitgeist, im Falle Luthers vom aufkommenden Frühhumanismus.

Neben den im Beitrag genannten Reformatoren ( Valdes, Wyclif, Hus)  sind vor allem noch zu nennen:

Die neue kommentierte zweisprachige Bibelübersetzung des Erasmus von Rotterdam (1467-1534), diente Martin Luther auf der Wartburg nachweislich als Grundlage seiner Übersetzung ins Deutsche.  Bei seiner Übersetzung beruft sich Erasmus auf Lorenzi Valla (1407-1457), dem Begründer der modernen Textkritik. Dieser hatte frühe griechische Bibeltexte aus Konstantinopel nach Basel gebracht; sie sind Grundlagen moderner Bibelübersetzungen. Auch die Auseinandersetzungen mit Erasmus haben Luthers  Lehren wesentlich beeinflusst. Erasmus genoss hohes Ansehen auch bei Protestanten, so dass er als römisch-katholischer Priester im Basler Münster ein Ehrengrab bekam. 

Böhmen war im 14. Jahrhundert schon vor Johannes Hus Wirkungsstätte von Reformpredigern, z.B. Jan Milic (von Kremsier, gest. 1374).

Auch in den Niederlanden gab es frühe Reformbewegungen. Geert Groote (1340-1384) übersetzte das lateinische Messbuch ins Niederländische damit die Gläubigen die Messtexte auch verstehen konnten. Seine Schriften haben Luther und Zwingli  gekannt.

Martin Luther kannte sicher auch einige der  reformatorischen Texte des schon zu Lebzeiten bekannten Philosophen, Theologen, Mathematikers Nikolaus von Kues (1401-1464). Dieser schlug sich zwar am Ende seines Lebens wieder auf die Seite des Papstes, seine Lehren könnten aber die Basis für eine ökumenische Entwicklung sein. Er spürte die Zeit epochaler Umbrüche.  Die Kirche war tief zerstritten, Päpste und Konzilien lähmten einander. Da lehrte er, dass Einheit und Vielheit kein Widerspruch sein müssen, ja einander ergänzen. Gibt es nicht wichtige Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen? Unerhört fanden seine Zeitgenossen seine Überlegungen, ob der Islam tatsächlich als der Feind des Christentums anzusehen sei.

Es gibt also noch viel zu entdecken in den 300 Jahren Reformationsgeschichte vor Luthers Tod.

Dr. Erwin Kreim, Mainz