Monika Höfler
Gehen Sie ein Eis essen!
Der Mensch kann jammern, wenn was schiefgeht. Und er kann feiern, wenn das drohende Malheur nicht stattgefunden hat
16.06.2016

Elke bückt sich, fährt mit Schwung in die Höhe – und schlägt mit dem Kopf an ein Regalbrett. Ihr Mann fährt sie sofort in die Klinik. Dort wird festgestellt, dass außer einer Beule nichts ist. Gleich danach geht sie wieder ins Büro. Der kleine Peter fällt vom Rad, schürft sich das Knie auf, wischt kurz über die blutende Stelle, steigt wieder auf und düst weiter. Maria geht zur Vorsorge­untersuchung bei ihrer Gynäkologin. Die Ergebnisse sind wie immer hervorragend. Sie freut sich kurz und verschwendet dann keinen einzigen Gedanken mehr an Mammografie und Abstrich.

Zu oft gehen machen wir einfach weiter, wenn etwas glimpflich ausgeht, findet Susanne Breit-Keßler. Warum das so ist und wie man sich an kleinen Glücksmomenten bewusster erfreuen kann, erklärt die Münchner Regionalbischöfin im Gespräch mit Tobias Glawion.
Wie oft geht man zur Tagesordnung über, wenn ein kleines Malheur, ein Unfall und eine Untersuchung glimpflich ausgegangen sind oder gar nicht stattgefunden haben. Natürlich muss man nicht aus jeder Kleinigkeit ein Riesentheater machen. Ein Mückenstich ist kein Elefantenüberfall, genauso wenig, wie ­man bei einem Schnupfen das Sterben zu proben braucht. Ein Denken, das sich um alle furchtbaren Eventualitäten dreht, nimmt einem Schwung und Lebensfreude. Aber immer nur weitermachen, als sei nichts gewesen, ist auch nicht gut. Überall kann man den Spruch lesen: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen.“

Die meisten Menschen verstehen das so, dass man nicht herumjammern, sondern sich gefälligst zusammenreißen und zackig wieder funktionieren soll. Man kann den Satz aber auch anders interpretieren. In der Bibel wird von der Krone des Lebens gesprochen, davon, dass Gott den Menschen mit Ehre und Schmuck gekrönt hat. Diese Krone wieder zu richten, nachdem man einem tatsächlichen Unglück oder einer möglichen Katas­trophe entkommen ist, bedeutet, sich viel Zeit zu nehmen. Sich wieder im Leben einzurichten, glücklich darüber, dass das Schlimmste eben nicht eingetreten ist.

Die meis­ten Katastrophen finden ja gar nicht statt

Man kann, wenn die Computertomografie, vor der man gezittert hatte, ohne Befund ist, sich ein schönes Musikstück auflegen, das Lieblingsessen kochen, ein Eis essen oder ausgehen. Hey, ich bin am Leben! Der Jahrestag der überstandenen Operation ist wie ein zweiter Geburtstag oder ein individuelles Ostern: Auferstehung mitten im Alltag. Das nicht zerschmetterte Rückgrat, der heil gebliebene Fuß, die Speiseröhre ohne Karzinom, eine Wunde, die sich keimfrei schließt... Alles ein Grund zur Freude. Es ist wichtig, die Krone des eigenen Lebens in aller Ruhe wieder zu richten – nicht zwischen zwei Telefonaten, der Einkaufstour, Aktenbergen und dem Bettenmachen.

Der Heilige Rasen

###drp|eToLlxwIJT8T_Iw3SG171r9N00147624|i-36||###

Fußball ist ihr Leben - sagt Regionalbischöfin und Schiedsrichtertochter Susanne Breit-Keßler. Hier schreibt sie für chrismon, was sie während der EM 2016 bewegt.

Körper und Seele müssen nämlich nachkommen. Sie sind auf Dauer beleidigt, wenn man über ihre Eindrücke hinwegwalzt. Was war eigentlich los? Welche Ängste haben einen geplagt, wie groß war der Schreck, welche Schmerzen hat man gehabt – dem nachzuspüren gibt einem die Gelegenheit, sich wieder einzu­holen, statt mit Hochgeschwindigkeit an sich selbst vorbeizubrausen. Solche Achtsamkeit wird übrigens auch helfen, wenn einem wirklich etwas Tragisches widerfährt.

Denn dann hat man wenigstens schon gelernt, behutsam mit sich umzugehen, den eigenen Gefühlen und Empfindungen ausreichend Raum und Zeit zu geben. Aber bevor das passiert, was Gott verhüten möge, ist es ganz gut, sich klarzumachen: Die meis­ten Katastrophen finden gar nicht statt – ­wunderbarerweise geht es einem selber und den Lieben in diesem Moment richtig gut. Und das ist doch eine fabelhafte Gelegenheit, das Leben ganz bewusst zu feiern! Nicht später. Sondern jetzt, sofort. 

Permalink

Sehrt geehrte Damen und Herren!

Die Autorin dieses Artikels, S. Breit-Keßler, spricht mir mal wieder aus der Seele. In der Tat neigen etliche Menschen dazu, nicht so recht zu schätzen, wenn ihnen Leid erspart bleibt, das sie vorab in Angst und Schrecken versetzt hat. Man geht dann gern zur Tagesordnung über, möchte nicht darüber sprechen, scheut sich, sich zu öffnen und seine Gefühle zu zeigen. Ist dies Nüchternheit, Verklemmtheit oder gar der Versuch, sich nicht hängen zu lassen, keine Schwächen zu offenbaren, stark und selbstbewusst zu sein? Vielleicht hat man ja auch nur den Kopf voll mit Terminen, fühlt sich gestresst und überfordert und ist froh, Belastungen überstanden zu haben. Statt diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen, darüber zu sprechen, dankbar zu sein und den guten Ausgang des vorab Gefürchteten zu genießen, schiebt man es weg, verdrängt es.

Man kann daher nur hoffen, dass viele diesen lebensbereichernden Artikel lesen. Zum Leben gehören leider auch Schicksalsschläge. Sie können aber leichter ertragen werden, wenn man behutsam mit sich umgeht und den „eigenen Gefühlen und Empfindungen Raum und Zeit“ lässt, wie die Autorin es so treffend beschreibt.

Mit freundlichen Grüßen

Gabriele Gottbrath

Gladbeck