Es ist Kirchenkrise, Christentumskrise, Gotteskrise, aber der gottlosen Welt geht es auch nicht gut. Die Leidenschaftlichkeit der alten Kämpfe ist längst dahin. Wo Nietzsche noch sein „Gott ist tot. Wir haben ihn getötet!“ herausschrie, wo gegen das Christentum Voltaire noch sein „Écrasez l’infâme“ schleuderte und Diderot gegen die Kirche den Tag heraufsteigen sah, „an dem der letzte Fürst mit den Gedärmen des letzten Pfaffen erdrosselt würde“, da haben sich nun ahnungsloser Atheismus, ungebildete Christentumskritik und klischeehafter Kirchenprotest breitgemacht.
Tatsächlich gibt es Atheismus fast nur noch in seiner fundamentalistisch-fanatischen Variante oder als geistlose Konvention. Philosophische Dilettanten wie der Biologe Richard Dawkins lassen bloß „die unendliche Seichtheit des angelsächsischen Atheismus“ (Peter Sloterdijk) wiederaufleben.
Auch mit der Christentumskritik ist es nicht weit her. Das meiste, was man da zu hören bekommt, beruht auf grober historischer Unkenntnis. Und der Kirchenprotest ist in einigen wenigen immer wiederkehrenden Leerformeln erstarrt, wobei man den wackeren Kirchengegner zumeist schon aus der Fassung bringen kann, indem man ihn ganz harmlos fragt, was das eigentlich genau sei, gegen das er da so tapfer rebelliere, ob er wisse, seit wann und warum es den Zölibat eigentlich gebe, was der Sinn der katholischen Sexualmoral sei, was die Unfehlbarkeit des Papstes in der Praxis bedeute und warum eine gewisse Form der Demokratie in der Kirche ein Problem sein könnte.
Katholisch ist bös, evangelisch ist lieb
Mit diesen vier Themen ist die landläufige Kirchenkritik dann aber auch schon zumeist am Ende. Amüsant ist, dass alle vier lizensierten Kirchenprotestthemen „katholisch“ sind, antiprotestantischer Kirchenprotest gilt als verpönt. Katholisch ist bös, evangelisch ist lieb. So ist das in Deutschland nun mal seit Bismarck. Als bei der derzeitigen Missbrauchsdebatte reflexartig der Zölibat, die katholische Sexualmoral und irgendwie auch der Papst als Ursache ins Gespräch gebracht wurden, riss einigen Wissenschaftlern der Geduldsfaden: Man werde eher vom Küssen schwanger als vom Zölibat pädophil.
Und was sagt uns das alles? Was heißt es, dass es so gut wie keinen diskursfähigen Atheismus, keine ernstzunehmende Christentumskritik, keinen wirklichen Kirchenprotest gibt? Das ist eine unglaubliche Chance für das Christentum! Doch warum merkt das keiner?
Wohl in keinem Land der Welt sind die christlichen Kirchen so nachhaltig institutionalisiert wie bei uns. Sie sind die größten Arbeitgeber. Es gibt kaum eine kirchliche Funktion, für die es nicht irgendwelche zuständige bezahlte Angestellte gibt. Und für Institutionsvertreter zählen vor allem Zahlen. Der Mitgliederrückgang, der Arbeitsplatzabbau, auch der Verlust an Meinungsmacht, das ist vom Standpunkt einer Institution aus alarmierend. Und so stürzen die Statistiken und die Demoskopie manchen Kirchenvertreter von Jahr zu Jahr tiefer in die Problemtrance, eine Stimmung jedenfalls, aus der heraus es nachgerade einem Gewaltakt gleichkommt, so etwas wie eine „frohe Botschaft“ zu verkündigen.
Das Christentum ist kein ewiger Kindergottesdienst
Doch die Kirche ist glücklicherweise primär keine Institution von bezahlten Mitarbeitern. Wahrscheinlich war der erste kirchliche Dienstvertrag von ähnlich epochaler Bedeutung wie die konstantinische Wende. Denn auch hier drängen sich beunruhigende Fragen auf: Kann man gegen Geld christlich handeln? Was bedeutet die Zuständigkeit hauptamtlicher, zumeist bezahlter Christen für all die vielen getauften Christen? Was ist dann eigentlich noch deren „Zuständigkeit“? Dafür hat man im Deutschen den höchst merkwürdigen Ausdruck „Ehrenamt“ erfunden. Doch es ist weder eine „Ehre“ noch ein „Amt“, sondern schlicht die Pflicht jedes getauften Christen, den Glauben zu verkünden, Gottesdienst mitzufeiern und den Schwachen zu helfen. Das nämlich sind theologisch die Wesensvollzüge der Kirche: Martyria (Verkündigung), Leiturgia (Gottesdienst) und Diakonia (karitatives Engagement).
In Deutschland aber haben wir die Verkündigung und die Diakonie an die Profis abgegeben, und ob jemand „praktizierender Christ“ ist, bestimmt sich konsequenter- und absurderweise vom Gottesdienstbesuch. Doch das wäre eine amputierte Christlichkeit, das Christentum wäre da bloß noch eine Nischenveranstaltung für leicht zwanghafte Ritusliebhaber, die gegen Geld Leute unterhalten, die das alles verstehen, und andere Leute, die sich um Charity kümmern.
Wir brauchen eine Reform des Christentums in unserem Lande im ursprünglichen Sinn des Wortes Reform. In der Geschichte war der Ruf nach Kirchenreform nie der Ruf nach Verbilligung des Christentums, sondern nach mehr Entschiedenheit, Ernsthaftigkeit und persönlichem Einsatz. Wir müssen wieder zurück zu den Quellen. „Ich bin nicht gekommen zu herrschen, sondern zu dienen“, sagt Jesus. Alle bezahlten, alle hauptamtlichen, alle „zuständigen“ Christen müssen ihre Tätigkeit im Sinne des Subsidiaritätsprinzips der christlichen Soziallehre als Dienst verstehen am Christentum aller Getauften. Sie müssen alles tun, damit alle Christen sich wieder bekennen können, und dazu müssen die ihren Glauben auch wieder kennen. Die hohe Theologie muss wieder mehr als Hilfe für den alltäglichen Glauben wahrgenommen werden, als demütiger Dienst und nicht als elitäres intellektuelles Projekt, das schlichtem Glauben mit ironischer Verachtung begegnet.
Bezahlte Nächstenliebe gibt es nicht
Jeder Christ ist „zuständig“ „Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in ihm lebt“ (1. Petrus 3,15), er muss wissen, warum der Glaube an Gott nicht unvernünftig ist, was die großen historischen Leistungen des Christentums sind, zum Beispiel das Mitleid mit den Schwachen erfunden zu haben, das die Heiden nicht kannten, als Erlösungsreligion die Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung angetrieben und durch viele vorbildliche Christen mehr Licht in die Welt gebracht zu haben. Katholiken müssen erklären können, was das Großartige am Zölibat ist, wie sehr die Sexualmoral einer Hochschätzung der Sexualität und der Würde des Menschen verpflichtet ist, warum die Unterscheidung von staatlicher und kirchlicher Herrschaftsform eine große Leistung des Abendlands war und inwiefern die Unfehlbarkeit des Papstes in Wirklichkeit die Vielstimmigkeit in der Kirche erhält, da niemand sektenartig seine eigene Auffassung für absolut erklären kann.
Was den Gottesdienst betrifft, so muss klar werden, dass Christentum nicht ewiger Kindergottesdienst ist, sondern etwas für Erwachsene, nichts Harmloses, sondern eine Sache auf Leben und Tod. Die Menschen wollen da Gott, sie wollen dem Heiligen begegnen, nicht bloß dem originellen Pfarrer. Und die Menschen wollen beten. Als in einem Dorf im Rheinland zu einem „Abend des Lichts, der Musik und des Gebets“ eingeladen wurde, kamen Hunderte, doppelt so viele wie sonntags zur Messe. Und das ist, genau besehen, gar nicht so erstaunlich. Die Menschen erleben Schreckliches: Ein Kind stirbt, jemand bekommt eine Krebsdiagnose, eine Ehe geht auseinander, wohin dann mit all der verschwiegenen Not?
Und schließlich muss klar sein, dass es bezahlte Nächstenliebe gar nicht gibt. Jeder Christ ist verpflichtet, die Einsamen zu besuchen, Sterbenden beizustehen und Menschen in Not zu helfen, und jede christliche Gemeinde muss sich darum kümmern. Eine solche Gemeinde wird dann plötzlich wieder lebendig. Natürlich kann man dabei dann auch mal ein paar bezahlte Profis zu Hilfe rufen. Doch die Diakonie selbst macht keine Diakonie, die Caritas selbst macht keine Caritas, Diakonie und Caritas haben den Auftrag, mit hoher Professionalität und daher zu Recht gegen Bezahlung uns allen zu helfen, diakonisch und karitativ unser Christentum zu leben. Der barmherzige Samariter wäre in Caritas und Diakonie in Deutschland niemals eingestellt worden, denn er war nicht getauft und hatte keine Berufsausbildung. Er war nicht bezahlt, er war nicht hauptamtlich, er war nicht zuständig. Doch auf die entscheidende Frage, wie man in den Himmel kommen kann, sagt Jesus: Handelt so wie dieser Samariter da!
Glaubensstifter
Lütz sagt es unverhüllt, genau wie in seinem Buch Gott. Das Christentum hat sich der Welt geöffnet. Wer der christlichen Konfessionen den besseren Weihrauch hat, ist für mich unerheblich. Welche andere Der Weltreligionen zeigt diese Öffnung?
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Das Christentum erklärt.
Das Christentum erklärt. Sehr gut der Kommentar. Kann man das grundlegend Positive des Christentums gegenüber anderen "Weltanschauungen" vereinfacht durch Rinder und Schweine auf einen Punkt bringen?
In Indien leben ca. 1 Mrd. Hindus. Weil vor der Tür, töten extreme Hindi Muslime, da sie vermuten, dass Muslime Rindfleisch gegessen haben. Wären wir die Nächsten, müssten auch wir deshalb an deren Glauben glauben. Den Hindus ist der Begriff Nächstenliebe fremd. Wenn sie dennoch geben und kein Tier töten, dann nicht für den Nächsten, sondern deshalb, um selbst bei der Wiedergeburt erhoben zu werden. Zum Glück betrifft das nicht Alle im Staat. Aber der Präsident Narendra Modi gehört der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party an, die diese Grundhaltung unterstützt. Deshalb nimmt dort auch die Drangsalierung von Christen und anderen Minderheiten massiv zu. Dort ist der Kastenglaube das extreme Gegenteil von Nächstenliebe und letzlich ein verdeckter Bruderkrieg.
Die extremen Muslime bekämpfen alle, die Schweinefleisch essen. Den Begriff der Nächstenliebe wenden sie nur auf Ihresgleichen an. Alle anderen sollen laut Mohamed und dem Koran gnadenlos bekämpft werden. Mit den zerfleischenden Bruderkriegen hat ihnen ihr Religionsstifter ein blutiges Erbe hinterlassen. Zum Glück denken nicht alle Muslime so, aber die Macht der Mullahs und die Mächtigen des Öls rücken davon nicht ab.
Das Christentum empfiehlt lediglich, am Karfreitag kein Fleisch zu essen. Unabhängig von der Religion gilt die Nächstenliebe der Christen für alle Bedürftigen. Selbst die Atheisten praktizieren die Nächstenliebe, obwohl sie an das Jenseits nicht glauben. Dafür ist ihnen die Menschenrechtscharta genug. Blutige Bruderkriege haben wir überwunden. Wer und was ist menschlicher?
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