Lena Uphoff
Wohin geht die Reise?
Jeden Tag fahren in Deutschland über sieben Millionen Menschen mit dem Zug. Wir wollten wissen, was sie beschäftigt, wenn sie unterwegs sind
Tim Wegner
Tim Wegner
27.07.2015

Frankfurt

Christoph Augustin und Monika Maus mit Sohn Franz
ICE 529, Frankfurt/Main nach München, ein Mittwoch. Auf dem Land leuchten die Rapsfelder. Im Kleinkindabteil haben Monika Maus und Christoph Augustin mit ihrem Sohn Franz, ein Jahr alt, Plätze reserviert.

chrismon: Wo wollen Sie hin?

Monika Maus: Nach Bad Goisern in Österreich. Meine Mutter wird 60. Und, ja, der Sänger. Nach Hubert von Goisern fragt mich fast jeder. Meine Mutter war eine Klasse über ihm in der Schule. Aber ich habe keinen großen Bezug zu Bad Goisern, ich bin in der Nähe von München aufgewachsen.

Christoph Augustin: Ich bin froh, dass ich mal im Zug sitzen kann. Ich fahre täglich so viel Auto, wir sind von Frankfurt raus in die Wetterau nach Bad Nauheim gezogen. 

Monika Maus: Eine Bauchentscheidung. Viele ziehen ja wegen der Kinder raus, wir hatten zu dem Zeitpunkt noch gar keins. Wir waren nur neugierig wegen der Wohnungsanzeige. So viel Natur und mehr Platz in einem alten Mühlhaus direkt am Fluss.

Christoph Augustin: Wir wollten eigentlich nicht, aber als wir es gesehen hatten, dachten wir: Warum nicht, wenn wir verliebt sind ins Haus? Der Nachteil ist, dass ich pendeln muss. Wir haben zum Glück viel geschafft in den vergangenen Jahren. Unser Sohn ist da! Die Familie ist jetzt wichtig, in den Jahren davor hatte ich wenig Zeit wegen der ganzen Prüfungen zum Steuerberater. Ich bin froh, wenn nun erst mal alles so weitergeht.

Monika Maus: Komisch, das ist genau meine Frage: Was kommt jetzt? Mein Freund hat etwas vergessen, wir werden dieses Jahr heiraten! Ich werde bald wieder als Sozialpädagogin arbeiten. Und dann ist vieles offen. Vielleicht wird die Familie ja größer?

Christoph Augustin: Bin ich ein Großstadt- oder ein Kleinstadttyp? Das wird so eine Frage für mich sein. In der großen Stadt muss man vieles ­teilen. In Bad Nauheim nicht.

Nürnberg

Kurz vor Nürnberg. Eine Frau im Großraumwagen setzt ihre Lesebrille auf und studiert den Fahrplan. Bleibt Zeit, um am Bahnsteig eine zu rauchen? Offenbar ja, sie steht auf: „Können Sie bitte kurz auf meine Sachen aufpassen?“ Als der Zug weiterfährt, erzählt sie. Aber bitte keine Fotos! Ihren Namen will sie nicht sagen. Und auch nicht, wie alt sie ist. So um die 60 vielleicht?

Raucherin (um die 60): Die von der Bahn rauchen ja auch oft, sie sagen mir, wenn ich einsteigen ­ muss. Und ich habe gelernt, die Sig­nale am Ende des Bahngleises zu ­lesen. Eben auf dem Weg zum Bahnhof hab ich eine Frau in der U-Bahn kennengelernt, sie stammt aus Eritrea. Und sie musste noch zur Post. Ich hab ihr angeboten, auf ihr Gepäck aufzupassen. Es war eigentlich genug Zeit. Aber dann kam und kam sie nicht wieder. Ich gerate oft in Zwickmühlen. Der Zug fuhr schon ein. Zum Glück ist die Frau gerade noch rechtzeitig wiedergekommen.

chrismon: Und wo wollen Sie hin?

Raucherin (um die 60): Zum Ammersee. Da wohne ich. Ich kann ein sauberes Bayrisch sprechen. Andere Dialekte auch, mache ich jetzt aber nicht. Ja, das Rauchen. Ich will damit nicht aufhören, jetzt nicht mehr. Heute muss man ja für eine Zigarette rausgehen, wenn man im Lokal ist. Draußen ist der tolle Vollmond, draußen gehen die Partys ab! Vor vielen Jahren, als junge Frau, bin ich zur Moon-Sekte, die hatten mir versprochen, dass ich dort vom Rauchen wegkomme. Erst war ich in Essen, dann in Aachen. Meine Familie hat vier Wochen lang nach mir gesucht. Das war Gehirnwäsche pur. Ich war froh, als meine Leute mich gefunden hatten. Danach war ich bei vielen Ärzten, aber die haben nur mit Medikamenten gearbeitet und nicht gefragt, was eigentlich los war mit mir. Na ja, aus dieser Zeit ist ausgerechnet das Rauchen geblieben. Und gegenüber Religionen bin ich skeptisch, ich halte es mit dem Dalai-Lama. Der sagt ja, dass sich Christen nicht zum Buddhismus bekennen müssen, weil sie alles mitbringen, was zum Buddhismus gehört. Das gefällt mir. Bin auch immer noch in der evangelischen Kirche. Ach, gucken Sie mal, das Altmühltal! Als ich 14 war, habe ich da mit meinem Bruder eine Radtour gemacht. Da gab es noch keine Radwege am Fluss, da ging es auch mal über die Hügel, eine Woche lang. Das sind Reisen, die vergisst man nicht.

Ingolstadt

Mai Bach muss umplanen
Die Schnelltrasse endet, der ICE fährt langsam durch Ingolstadt, als wolle er jeden Moment anhalten. Damit hat Mai Bach auch gerechnet, aber ein Halt ist hier gar nicht vorgesehen. Nun telefoniert sie ganz aufgeregt in breitestem Kölsch, und weil sie Kopfhörer trägt, denken alle, sie führe laute Selbstgespräche. „Alles Theater“, sagt die Dame gegenüber.

Mai Bach (am Telefon): „Hallo, ich würde mich freuen, wenn du nun runterfährst und dich be­ruhigst! Ich dachte, der Zug hält in ­Ingolstadt. War mein Fehler. Ist passiert. Aber wenn du dich ärgerst, bleibst du nur in negativen Gedanken hängen und machst noch einen Autounfall. Kannst du so fahren? – Ja? – Pass auf, dann machen wir das ­Beste draus, ich buche uns ein schönes ­Zimmer in München.“

Sie beendet das Telefonat, wuchtet ­ihre Tasche in die Gepäckablage und lässt sich am Tisch gegenüber in den Sitz plumpsen. München statt Ingolstadt also.

Sie ruft ein Hotel an. „Welches Datum? Das muss ich Ihnen doch nicht sagen, wenn ich heute anrufe und heute zu Ihnen kommen will. – Ja, ein Doppel­zimmer, mit Badewanne, bitte. – Klappt? Super!“

Sie legt auf und ruft wieder zu Hause an. „Schatz, ich hab ein Zimmer, trotz Messe, mit Ba-de-wan-ne! Jetzt fahr runter, wir sind gesund, dat is’ die Hauptsache. Ich muss nicht dein Ventil sein, auch wenn ich deine Frau bin. Ich bin nun 21 Stunden unterwegs, das kann ich nicht gebrauchen.“

chrismon: Jetzt also weiter nach München?

Mai Bach: Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Das ist mein Credo. Ich will mit meiner Liebe alt werden. Liebe ist ein Geschenk, aber das kriegt man nur, wenn man sich selbst ­lieben kann. Das war nicht leicht. Ich bin Adoptivkind. Ich bin 1970, während des Krieges, in Vietnam ge­boren. Mein Vater war ein GI. Meine Mutter hat mich weggeben müssen, erst in ein Kloster, von dort aus kam ich nach Deutschland. Ein Leben lang habe ich meine Mutter gesucht, ich war damit im Fernsehen, „Vermisst“ heißt die Sendung, Staffel vier, ­Sendung eins, „Gisela und Mai“, 2010. Ich habe sie immer dabei, gucken Sie mal.

Sie wühlt in ihrer Tasche und zeigt ­die DVD. Vor fünf Jahren habe ich mit einem TV-Team meine Mutter gefun­den, bis heute sind wir in Kontakt. Ich heule immer noch, wenn ich daran denke. Oh, Mann, bin ich müde. Ich komme aus Barcelona, dort hatte ich einen Auftrag. Ich bin Hundetrainerin. Der Zug erreicht München. Mai wird nicht mehr fertig mit ihrer ­Geschichte, sie verschwindet in der Menschenmenge.

München

Martina Dörfler legt für chrismon ihr Buch zur Seite
EC 112, München nach Frankfurt/Main. Abteilwagen. Ein junger Mann blättert in der Zeitschrift „Krafthand. Unabhängiges Technik­magazin für das Kraftfahrzeughandwerk.“ Er verabschiedet sich schon bald wieder. Die Frau gegenüber liest „Ich vermisse dich“ von Harlan Coben. Wir sprechen sie trotzdem an. Sie heißt Martina Dörfler.

chrismon: Wie gefällt Ihnen das Buch?

Martina Dörfler: Ich lese unglaublich gern und achte immer auf die Leser­kritiken im Internet. Und höre auf die Buchhändler. Die wissen, was mir gefällt. Auch dieses Buch hier ist toll. Aber wenn man lange Strecken fährt, mag man irgendwann auch mal reden. Ich bin in Klagenfurt in diesen Zug gestiegen, losgefahren bin ich in Spittal an der Drau in Kärnten. Wir haben dort in der Nähe einen Bauernhof.

chrismon: Und wo wollen Sie hin?

Martina Dörfler: Nach Bensheim, meine Familie besuchen. Ich bin im Odenwald aufgewachsen. Meine Eltern haben mit uns immer Urlaub in Kärnten gemacht. Als ich 18 war, habe ich mich verliebt. Und bin geblieben. Das ist 32 Jahre her. Mein Papa sagte bei der Hochzeit: „Du sollst wissen, dass immer eine Tür für dich offen steht!“ Aber diese Tür hat es zum Glück nie gebraucht. Unser Ältester will unseren Hof übernehmen; die beiden Mädels würden es sich auch zutrauen, das freut uns, dann haben wir ja nicht viel falsch gemacht. Der Hof ist mehr als 300 Jahre alt. Jeden Meter muss man dem Hang abtrotzen. Wir haben drei Standbeine: Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Tourismus. Mit den Fremdenzimmern hatten die Schwiegereltern schon angefangen. Wir leben das Leben der Gäste immer ein bisschen mit. Und freuen uns, wenn im Sommer ein weiteres Kind mit anreist. Oder sind traurig, wenn Gäste nicht mehr kommen, weil sie gestorben sind oder weil es Trennungen gibt. Der Hof macht immer Arbeit. Die Pferde, unsere Kühe, die kleine Käserei. Das reicht für unseren Eigenbedarf. Aber ich muss halt dranbleiben. Ein Urlaub ist dann eher nur einen Nachmittag lang – dann geh ich ins Schwimmbad. Ich bin zufrieden mit meiner kleinen Welt. Es ist schön, dass alles so gekommen ist. Und was ist, wollen wir erhalten.

Frankfurt

Leben seit fast 50 Jahren in Australien: Karl und Anne Wasmann
ICE 772, Frankfurt/Main nach Hannover. Wieder ein Mittwoch, diesmal im Sommer. Der Bahnsteig ist voller ­Menschen, aber im Zug verlieren sie sich, viele Plätze bleiben leer. Im Bordbistro: alles ruhig. Draußen leuchtet kein Raps mehr, dafür aber die ersten Getreidefelder und roter Mohn. Ein kleiner Mann mit Bart, Jeansjacke und Hut kauft eine ­Apfelschorle. „I have to get used to your money first“, sagt er zur Verkäuferin: „Ich muss mich erst an Ihr Geld gewöhnen.“ Er lacht, sie lächelt, er geht zurück ins Abteil, da wartet seine Frau. Ein riesiger Rollkoffer steht in der Mitte, der sieht aus wie mit Wüstensand bestäubt. „Come in!“, sagt der Mann.

chrismon: Wo wollen Sie hin?

Anne Wasmann: „Nach Moringen bei Göttingen“, sagt sie und möchte doch lieber Englisch sprechen. 1966 haben die Wasmanns Deutschland verlassen, nun wollen sie den Bruder von Karl Wasmann besuchen. Zwei Jahre hatten sie als junges Paar in Australien bleiben wollen, „Work and Travel“. Inzwischen sind es fast 50 Jahre. In all den Jahrzehnten waren sie erst einmal zurück in Deutschland, vor 29 Jahren. Viele deutsche Worte, um die sie jetzt ringen, werden ihnen ­wieder einfallen. „Wir wären gern ­öfter gekommen“, sagt Anne Wasmann, „aber die Zeit war nicht da und das Geld war nicht da.“ Die Wasmanns haben drei Kinder, in Westaustralien betrieben sie eine Tankstelle.

Karl Wasmann ist unruhig. Der Flug von Perth nach Frankfurt dauerte 18 Stunden. Die Fahrt nach Perth mit dem Auto war auch schon drei Stunden lang. Und nun noch dieser moderne Zug, das neue Geld. Sitzen mag er nicht mehr, seine Augen flackern, sie hängen auf der Suche nach bekannten Wegmarken der Landschaft draußen nach.

Karl Wasmann: „Wie lange noch? In 15 Minuten müssen wir raus, oder?“ Seine Frau ist ruhiger.

Anne Wasmann: „Nein, Karl, erst kommt noch Kassel.“ In Australien, erzählt sie, sind die Menschen herzlicher, nicht so gestresst. Jedenfalls auf dem Land, wo sie leben. Kalannie, Westaustralien, hat gerade mal 250 Einwohner. Und die alle achten nun fünf Wochen  lang auf das Haus der Wasmanns. „Wenn jemand im Ort stirbt, kommt für viele Tage immer ein Nachbar in die Fami­lie, um zu kochen, damit die anderen trauern können“, sagt sie. Zurück nach Deutschland? „Wenn wir mal sterben“, sagt Anne Wasmann, „dann wollen wir in Australien begraben sein.“ Der nächste Halt ist Göttingen.

Hannover

Christopher Schleiff ist Puppenspieler
IC 2037, Hannover nach Leipzig. Der zweite Wagen von vorn ist ein alter Interregiowaggon: alles ein wenig abgenutzt, auch die dicken Vorhänge an den Abteilen; an einer Tür sind sie fast zugezogen. Ein Spalt gibt den Blick frei auf eine leere Tupperdose, Christopher hat gerade gegessen. ­ Frische Luft weht durchs Fenster ins Abteil.

Christopher: Das lernt man mit der Zeit: die Wagen erkennen, in denen das Fenster sich noch öffnen lässt!

chrismon: Wo wollen Sie hin?

Nach Leipzig. Da will ich heimisch werden. Das ist nicht so einfach.

chrismon: Warum?

Christopher: Ich bin Puppenspieler. Also muss ich oft durchs Land reisen. Gerade war ich eine Weile in Bielefeld. Bei meiner Freundin läuft das ähnlich. Wir möchten gerne mehr in Leipzig sein. Im ­November werden wir Eltern.

chrismon: Puppenspieler!

Christopher: Genau, davon gibt es nicht so viele. Als die Schule fertig war, an der Nordsee in Schleswig-Holstein, wusste ich: Ich will ans Theater. Ich will auf die Bühne. Aber ich will nicht unbedingt Schauspieler sein. Also habe ich Puppenspiel in Berlin studiert. Die haben den Studiengang in „zeitgenössisches Puppenspiel“ umbenannt, damit nicht alle als Erstes an Kasperle denken. Das denken aber trotzdem viele.

chrismon: Was spielen Sie am liebsten?

Christopher: Wir haben mal was mit Puppen­figuren vor einer digitalen Landschaft gemacht. Das war super. So was kann Puppenspiel eben auch. Ich möchte mich in Leipzig mit Künstlern aus ganz anderen Bereichen vernetzen.

Halle an der Saale

Festhalten tut hier Not
Längst ist der Zug hinter Helmstedt über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze gefahren. Vor Halle an der Saale muss der Intercity warten, bis ein Gleis am Hauptbahnhof frei wird. Er ist in einer Kurve zum Stehen gekommen und hat nun Schräglage. Eine ältere Dame wartet schon auf dem Gang und muss sich festhalten. Sie erzählt:

Ältere Dame (auf dem Gang):  Es bräuchte hier Griffe, um sich festzuhalten. Na ja. Normalerweise benutzt der Zug eine andere Trasse. Aber weil gebaut wird, fährt er hier entlang. Ich kenne die Strecke schon seit DDR-Zeiten. Es gab sogar mal eine Direktverbindung, die auch einen Halt bei uns in Celle vorgesehen hatte. Ich hatte zwei Tanten in Halle. Was ich an der Saale alles erlebt habe! Den kompletten Haushalt musste ich auflösen. Oje, war das viel Arbeit. Die Tanten leben nun beide nicht mehr. Ich komme aber weiterhin nach Halle, auch wenn andere Städte in Ostdeutschland viel stärker beachtet werden. Diesmal besuche ich die Händel-Festspiele. Das wird schön!

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Am Finger der Frau blitzt ein Solitär auf, ein Verlobungsring? Von einem Mann hat die Dame nichts erzählt. Jetzt ist sie weg, ist ausgestiegen. Das piepsende Warn­signal ertönt, die Türen schlagen zu, rumms, weiter geht’s.

Leipzig

IC 2154, Leipzig nach Frankfurt/Main. Der Bahnsteig war voll, der Zug ist es auch. Aber ein Mann sitzt allein in einem Abteil. Er telefoniert.

„Und dann teilst du die Ausschüttung oben in der Tabelle durch den Equity“. Der Mann, kaum 30 Jahre alt, sportliche Figur, schickes Hemd, blickt auf seinen Computer und nickt. Er trägt ein Headset und nickt wieder, diesmal grüßend Richtung Abteiltür.

„Diese Rechnung musst du nun für jedes Jahr darstellen. Kannst du mir das schicken? Danke! – Was? – Ich weiß auch nicht, wer das kaufen will, irgendeiner aus Russland.“ Er legt auf, lächelt und sagt: „’tschuldigung!“ Der Mann wirkt unruhig, immer wieder blickt er auf den Computer und aufs Blackberry. Bis 18 Uhr muss die Auswertung, die nun der Kollege in Frankfurt bearbeitet, beim Kunden sein. Und um 18 Uhr ist der Zug noch unterwegs. Er braucht eine Internetverbindung, dringend.

Businessman: „Jeder, der in meinem Bereich ar­beitet, weiß: Nichts tun führt dazu, dass Deals sterben.“ Und das will er nicht, er wird ja auch erfolgsab­hängig bezahlt. Der Deal soll leben! Da müsse man eben 24 Stunden am Tag erreichbar sein.

chrismon: Was machen Sie beruflich genau?

Businessman: Private Equity. Beteiligungen an Unternehmen, in die wir Gelder unserer Kunden investieren und die wir wertvoller machen. Gerade war ich in Leipzig bei einer Firma, die wir übernommen haben.

chrismon: Da haben die Mitarbeiter auch Angst, oder?

Businessman: Deswegen schickt man mich ja, weil ich nett bin.

Auf dem Sitz neben dem Mann liegt ein Buch. „Bazar statt Börse: Meine Reise zu den Wurzeln der Wirtschaft“ von Conor Woodman.

chrismon: Was ist das für ein Buch?

Lesender: Das hat mir mein Vater geschenkt, es handelt von einem Analysten, der seinen Job kündigt und stattdessen mit Kamelen handelt.

chrismon: Wäre das auch was für Sie?

Lesender: Nein, ich tue meine Arbeit sehr gern. Ich finde Frankfurt super. Es ist schon cool, dass die Leute, mit denen ich zu tun habe, alle ähnlich sind. Die sind pfiffig, extrem gut ausgebildet.

chrismon: Und Sie?

Lesender: Ich auch, mein Vater ist ebenfalls in der Finanzbranche, mir war das in die Wiege gelegt. Mit 15 haben mich meine Eltern nach England geschickt. Dort habe ich an der Cass Business School studiert. Und in Hongkong war ich ein Jahr.“

Am Zugfenster fliegt ein Vorort von ­Eisenach vorbei. Vor einem Haus ist ­eine riesige Thüringer Wurst in einem aufgeschnittenen Brötchen zu sehen, Werbung für einen Imbiss. Wir ver­wickeln den Experten für Ökonomie in ein Fachgespräch.

chrismon: Kann es sein, dass so viel Kapital auf den Finanzmärkten ist, dass bald wieder eine Blase platzt, wie 2008?

Lesender: Es ist schon wahnsinnig viel Geld da. Aber in Deutschland wird doch moderat gewirtschaftet. Ob das schief­geht? Puh, da müsste ich Wirtschafts­weiser sein.

chrismon: Haben Sie Familie?

Lesender: Eine Freundin habe ich. Sie studiert noch. Da kann sie sich die Zeit mit mir ganz gut einteilen.

Ein weiterer Mann steigt zu, auch er hat einen Computer dabei. Der Finanzmensch bietet an, auf dem Tisch Platz zu machen. „Nicht nötig“, sagt der andere, „ich nehme meinen Rechner immer auf den Schoß.“

Hanau

Der Zug erreicht ­Hanau in Hessen. Der Bistrowagen hat sich langsam gefüllt, es geht auf den Abend zu. An einem Tisch lamentiert ein großer Mann. Er ist genervt von seinem Arbeitgeber, einem Konzern. „Die gehen mir so auf den Sack! Die machen das alles, ohne den Betriebsrat zu informieren.“ Seine Begleitung nickt stumm. Am Tisch nebenan sitzt eine junge Frau mit dunklen Haaren und weißer Bluse. Es sieht so aus, als würde sie sich an ihrer Kaffeetasse festhalten. Der Zug erreicht ­Hanau in Hessen, der Lamento-Mann geht, es wird still.

chrismon: Wo wollen Sie hin?

Stuttgarterin: Ich muss noch nach Stuttgart. Ich war zum Vorstellungsgespräch in Thüringen. Dort bin ich auch aufgewachsen.

chrismon: Und Sie wollen wieder nach Hause, weil Sie Heimweh haben?

Stuttgarterin: Nee, ich komme einfach beruflich nicht weiter. Das habe ich meinem Chef auch schon oft gesagt.

chrismon: Das ist mutig!

Stuttgarterin: Ja? Was soll ich machen! Er weiß schon länger, dass ich eine Perspektive will. Aber wir sind eben auch nur eine kleine Firma. In Erfurt wäre ich beim Land beschäftigt, da sind die Möglichkeiten viel größer. Und das Gespräch ist wirklich gut gelaufen. In fünf Tagen weiß ich Bescheid. Selbst wenn es jetzt nicht klappt, wollen sie meine Mappe in der Per­sonalabteilung hinterlegen, und wenn wieder was frei wird, bin ich im Rennen.

Schnell packt die Frau in der weißen Bluse ­ihre ­Sachen zusammen, als die Frankfurter Hoch­häuser am Fenster auftauchen. Hier muss sie raus, um­steigen. Ihre ­Kontakt­daten will sie per E-Mail schicken. Aber sie schreibt nie. Falls sie ­eine Zusage bekommen hat, wird sie nun auch nicht mehr oft auf dieser ­Strecke unterwegs sein. Aber auf einer anderen Trasse vielleicht, als eine von sieben Millionen Menschen, die Bahn ­fahren – jeden Tag.

Der Autor

###drp|t45TB-462mXpgSsA8weQIt4600012516|i-38||###Nils Husmann, 39, wird auf jeder Fahrt in Gespräche verwickelt. Vielleicht, weil er immer „Guten Tag!“ sagt, bevor er sich setzt.

Die Fotografin

###drp|Oh1dpSXxr2Q1Rsw41g_rPFo300111733|i-38||###Lena Uphoff, 37, fotografierte in Bitterfeld den Zug von außen, da schlossen sich die Türen. Zum Glück bemerkte der Zugchef sie gerade noch rechtzeitig.

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eigentlich hatte ich die SZ für die nächsten Wochen abbestellt, wegen Urlaub.
Dennoch lag sie wie gewohnt heute morgen im Briefkasten. Und da wir erst heute nachmittag fahren, habe ich genug Zeit zum Lesen, fange jedoch wie immer am ersten Montag im Monat mit der chrismon an. Und weiß, zur SZ werde ich heute nicht mehr kommen.
Ich kann mich nicht erinnern, je eine Ausgabe in den Händen gehabt zu haben, die mich mehr beeindruckt, ja fasziniert hat:
Es beginnt mit dem Portal; Federball. Wie oft habe ich (61) mit meiner ehemaligen Nachbarin (57) über die Zeiten geredet, an den wir abends ... Federball auf der Straße spielten!
"Die Welt da draußen": Wieder einmal erschrecke ich mich, kenne ich doch einige Banker, bin selbst im Verwaltungsrat einer Sparkasse tätig .... Gut, in einen solchen Spiegel zu schauen...
"Keine Ahnung" - muss ich später lesen; habe aber als Lehrer und Schulleiter tagtäglicg damit zu tun, sehe beim ersten Überfliegen meine eigenen Töchter ..
"Loslassen": Distanz gewinnen, Danke Arnd Brummer, ich wills versuchen in den nächsten Wochen. Sudokus löse ich nicht, aber mit dem SZ Kreuzworträtsel gehts mir genauso ..
"Viel geiler als in echt": nachher.
Lee Miller: unverzichtbar.
"Wohin hegt die Reise?": Frage ich mich heute auch noch, da ich eine ICE - Fahrt vor mir habe. Aber ein anderer Aspekt rückt in den Vordergrund: Seit knapp einem Jahr bin ich (wieder) begeisterter Radler. Die Idee kam mir Anfang Mai auf dem Kocher-Jagst-Radweg. Während meine Frau in Dinkelsbühl ihrer Patchwork - Leidenschaft frönte, radelte ich durch die blühende Natur, traf nette Leute ... Warum nicht über diese Begegnungen schreiben? Diese Texte in der heutigen Ausgabe bestärken mich, es einfach zu versuchen, und wenn es nur für mich ganz privat ist: Menschen auf einem Radweg. Demnächst geplant: Leine - Heide - Radweg, Mainradweg, fränkischer Bier - Radweg. Ich denke es lohnt sich!
DANKE für diese tolle Ausgabe.

Ulf Hoffmeister

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Sehr geehrte Damen und Herren,

danke für Ihr übersichtlich gestaltetes Portrait von reisenden Menschen, die wir alle sind und den jungen Damen. Wohltuend auch dass es nicht immer Promis sein müssen.

Ich wünsche mir Künstlerportraits in ihren Wohnungen und Ateliers, da ich selbst in dieser Richtung wirke.

Ich träume von einer offenen Kirche mit fröhlichen, afrikanischen Gesichtspunkten, wo der Priester sich unter die gläubigen Kirchenbesucher mischt, sie aktiv in den Gottesdienst mit einbezieht in Gesang und persönlicher Stellungnahme.

Wir können ja dafür beten, auch bei uns in NRW.

Viel Erfolg mit Ihrer Arbeit und Gottes Segen wünscht

Elisabeth Lohkämper aus Haltern am See
christliche Künstlerin