Wie viele Experimente verträgt eigentlich ein Gottesdienst?
Tim Wegner
30.11.2010

Als vor einem Jahr mein Sohn eingeschult wurde, gehörte zum Ritual dieses großen Tages auch ein Gottesdienst. Die älteren Kinder hatten für die aufgeregten Erstklässler kleine bunte Fische gebastelt, und ich dachte naiv, aha, gleich erzählt die Pastorin von Jonas, dem Walfisch. Nix da, die Predigt bestand im Großen und Ganzen aus der Lesung eines Kinderbuch-Klassikers, "Swimmy" von Leo Lionni. Zweifellos ein pädagogisch wertvolles Buch, denn Swimmy bildet mit anderen kleinen Fischen einen Schwarm, um sich gegen die großen Fische zu verteidigen. Das machten die Kinder dann auch brav, jedes mit einem selbst gebastelten Krepp-Papier-Fisch. Es war ein bisschen wie der Vorlesenachmittag in der Stadtteilbücherei. Eben jener reizende ältere Herr Lionni erweist sich offenbar als Segen für aufgeschlossene Pfarrer, denn kurz danach hörte ich im Radio die tägliche Andacht "Kirche auf Eins Live". Der katholische Studentenpfarrer füllte die gesamten anderthalb Minuten Sendezeit mit dem zweiten Lionni-Bestseller "Frederick". Das ist eine Maus, die nicht wie andere Mäuse für den Winter Körner und Nüsse sammelt, sondern Sonnenstrahlen, Farben und Wörter.

Nur so ein bisschen vom lieben Gott erzählen?

Meinen Kindern habe ich dieses Buch bestimmt schon 20 Mal als Gutenachtgeschichte vorgelesen. Aber hätte der Pfarrer nicht wenigstens am Ende noch die Kurve kriegen können zu seiner Kernbotschaft? Nur so ein bisschen vom lieben Gott erzählen? Manchmal wundere ich mich, wie ähnlich die Kirche der Welt geworden ist. Gottesdienste wirken bisweilen, als seien sie von einer überdrehten Event-Agentur inszeniert. Heiligabend waren wir beim Familiengottesdienst in unserer evangelischen Gemeinde. Mit Marionettentheater, Bauchredner, Liveband und Gospelsängerin. Nach anderthalb Stunden sagte mein Sechsjähriger: "Ich kann nicht mehr." Ich konnte ihn verstehen, es war wie ein Fernsehabend, an dem man durch zehn Programme gezappt hat und anschließend dieses Dröhnen im Kopf hat. Danach unterm Weihnachtsbaum habe ich meine Kinder vergebens nach der Weihnachtsgeschichte gefragt. Doch, die war schon dabei, auch "Stille Nacht, heilige Nacht". Aber sie fiel nicht weiter auf zwischen dem ganzen Krach, Zisch und Bumm. Oje, und dann kam Karneval. Sicher, wer sich in einen Karnevalsgottesdienst begibt, ist wild entschlossen zum Amüsement. Und ich bin wirklich ein dankbares Zielobjekt für gute Witze und eingängige Karnevalslieder. Keine Stunksitzung und kein Rosenmontagszug ohne mich. Aber genau das ist das Problem: In einer Stadt, in der es gut gemachte, auch alternative Karnevalssitzungen gibt ­ muss man da in der Kirche einen Pfarrer in Netzstrümpfen und Strapsen ertragen?

Muss man einen Pfarrer in Netzstrümpfen und Strapsen ertragen?

Dessen kalauernde Büttenrede "op Kölsch" darauf vertraut, dass die Protestanten schon beim Stichwort "Kardinal Meisner" zu brüllen anfangen? Und automatisch in Stimmung kommen, wenn sie "Das ist der Wahnsinn" grölen, das sie schon am Vorabend in drei verschiedenen Kneipen gesungen haben. Warum nicht auch mal in der Kirche? Ich muss zugeben: Viele finden das prima. Beim Karnevalsgottesdienst ist die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. Jaja ­ ich brauche ja nicht hingehen! Aber: Es ist meine Kirche, ich bin evangelisch. Und ich will einfach nicht, dass sich meine Kirche lächerlich macht. Dabei finde ich es richtig, dass Kirche modern sein will. Wenn alles beim Alten bleibt, schreibt die Theologin Hildegard Wustmans, dann ist die Kirche nur noch "an Orten präsent, wo keiner mehr hinkommt, und gibt Antworten auf Fragen, die keiner mehr stellt". Und das finde ich noch schlimmer: Sonntags in eine Kirche zu kommen, wo acht Leute sitzen, die mit einer schlechten Predigt und den immer gleichen Liedern abgespeist werden. Klar soll sie neue Orte aufsuchen, neue Fragen stellen. Aber sie soll sich bitte auf das beschränken, was sie wirklich gut kann. Sie soll nicht kopieren, was Volkshochschule, Managerseminare und RTL besser machen.

Kirche soll nicht kopieren, was Volkshochschule, Managerseminare und RTL besser machen.

Und schon gar nicht soll sie mir mit indianischen Kreistänzen, Familienaufstellungen nach Hellinger oder buddhistischen Riten kommen, nur weil sie gerade gefragt sind auf dem Psychomarkt. All das finde ich Großstadtmensch schon im buddhistischen Zentrum oder beim Öko-Bildungswerk. Da buche ich lieber gleich das Original statt die evangelische Kopie. Unternehmensberater fragen: Wo ist eure Unique Selling Proposition, euer Verkaufsargument? Was habt ihr zu bieten, was es anderswo nicht gibt? Mit schlechten Büttenreden, Bestseller-Kinderbüchern und überladenen Events lockt man keine neuen Zielgruppen in die Kirche. Gerade die so genannten Zielgruppen ­ die ja oft Randgruppen sind ­ wollen nicht mit Peinlichkeiten bedient werden. Ich habe schwule Freunde, die haben sich evangelisch segnen lassen. Es sollte sehr, sehr feierlich sein. Sie hatten sich schwarze Anzüge gekauft, sie hatten ihre fromme Verwandtschaft eingeladen. Und sie fanden es überhaupt nicht komisch, dass der Pfarrer, der sich bestimmt sehr cool vorkam, in seiner Predigt mehr als einmal "kotzen" und "poppen" sagte. Klar sagen die das selber, wenn sie in die Szenekneipe "Stiefelknecht" oder in Ralph Morgensterns Kabarett-Schuppen "Filmdose" gehen. Aber in der Kirche, da wollten sie nicht die Randgruppe sein. Da wollten sie das Gefühl haben, mittendrin zu sein, dazuzugehören. Eine Freundin habe ich neulich zum Heilungsgottesdienst für vergewaltigte Frauen begleitet. Dort wurde all das gemacht, wovon sich Frauenzentren vor 20 Jahren zu Recht verabschiedet haben. Wir wurden ohne Not geduzt und besonders langsam und deutlich angesprochen, als seien Vergewaltigungsopfer automatisch schwer hörbehindert. Jede Frau sollte eine Tulpenzwiebel einpflanzen und anschließend nach vorn kommen und sagen, wie sie heißt und was die Pflanze braucht. Nach langem Warten traute sich eine einzige Frau nach vorn und sagte: "Meine Zwiebel heißt Hannelore und braucht Akzeptanz." Drei andere verließen fluchtartig die Kirche. Und wir verbliebenen sieben guckten peinlich berührt zu Boden, damit uns bloß niemand anspricht. Bitte, bitte, spielt jetzt wenigstens ein bekanntes Kirchenlied, dachte ich mir. Betet das Vaterunser, irgendwas Vertrautes. Denn dieses Gefühl will man doch haben in der Kirche: getragen zu werden von der Gemeinschaft, Trost zu finden in einem vertrauten Gebetsritual. Aber nichts davon gab es. Statt einer Predigt gab es "Gedanken zu einer Tulpenzwiebel". Statt des Vaterunsers gab es ein Gedicht namens "Dunkler Frühling". Statt Orgelmusik Liedermachertexte zur Gitarre.

Warum greifen Pfarrer alle zu demselben Grönemeyer-Lied?

Warum greifen Pfarrer alle zu demselben Grönemeyer-Lied "Mensch"? Warum muss es immer der "Kleine Prinz" sein oder "Stufen" von Hermann Hesse? Warum banalisieren sie ihre Texte so lange, bis "alles irgendwie nach Rilke" klingt, wie Fulbert Steffensky treffend sagt? Für neue Fragen und neue Orte bleibe ich offen. Bereitwillig habe ich neulich in einem "Scheidungsgottesdienst" Postkartengrüße an eine Wäscheleine gehängt. Zugegeben, ich musste mir einen Tritt geben, denn ich bin erst mal erschrocken, als ich im Kirchenraum die Stationen "Dank", "Angst", "Wut" und "Hoffnung" sah. Aber erstens: Es war kein normaler Gottesdienst, so viel war schon auf dem Flyer klar geworden. Und vor allem: Es gab auch Vertrautes: Gebete und Orgel und Predigt. Gern sollen Pfarrer mit ihrer Botschaft an ungewöhnliche Orte gehen. Wunderschön ist es, den Ostergottesdienst morgens um sechs am Ufer eines Sees zu feiern. Oder mit 10 000 Bikern erst einen Gottesdienst zu besuchen und dann über die Autobahn zu einer Festwiese zu fahren. Aber es muss ein Gottesdienst bleiben, kein Klerikal-Musical und keine protestantische Seifenoper. Dabei möchte ich ganz gern, dass man mir etwas aus der Bibel erzählt. Wenn Pfarrer nur noch aus demselben Fundus schöpfen wie Jubiläumsredner bei goldenen Hochzeiten, wenn Predigten nur noch eine Ansammlung von Aphorismen und Postkartensprüchen sind ­ kein Wunder, dass Jugendliche bei der Konfirmanden-Prüfung nicht mehr wissen, wer Adam und Eva waren. Und, man mag mich für altmodisch halten, aber wenigstens das Vaterunser soll schon sein. Das muss auch nicht umständlich anmoderiert werden. Kein Pfarrer muss sich dafür entschuldigen, dass er jetzt das Glaubensbekenntnis mit uns spricht. Ist schon okay, deshalb sind wir ja da. Und wir brauchen auch keine psychotherapeutischen Techniken vorab: Wenn ich in die Kirche gehe, weiß ich, worauf ich mich einlasse. Keiner muss mit mir üben, die Stille zu hören und den Herzschlag zu spüren. Allein das Betreten eines Gotteshauses versetzt mich in einen Zustand der Erwartung. Allerdings nur, wenn das Drinnen auch einen Unterschied macht zum Draußen. Und die Kirche einen Unterschied macht zur Welt. Was erwarten Sie von einem Gottesdienst? Freuen Sie sich über Experimente? Liegt Ihnen mehr am Altbewährten? 

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Danke der Autorin fuer offene, ehrliche Kritik - und das ohne alles Neue, Experimentelle in Bausch und Bogen zu verwerfen. Sehr gelungener Artikel!

Vielleicht waere eine der besten Antworten auf das Dilemma zwischen dem Festhalten an Bewaehrtem und Vertrautem einerseits und dem mutigen und experimentierfreufigen Ansatz, andererseits, das, was sich in der "FreshX" Bewegung der anglikanischen Kirche "mixed economy" nennt:
fuer solche Zielgruppen, die ohnehin ausserhalb jeglicher kirchlicher Tradition aufgewachsen sind, kann es schon mal was Ungewoehnliches sein (aber nicht zwanghaft, nur um etwas "anders als sonst" zu machen!)
und zugleich ist da der Raum fuer Gottesdienstformen, die sich an eher traditionsbewuste Besucher wenden.

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schön, dass der Artikel nach 10 Jahren noch im Netz steht!
Ich liebe den Spruch: "Die Liturgie schützt die Gemeinde vor den Einfällen des Pastors."

Sicher, andere Menschen brauchen Abwechslung und Einstiegshilfen, aber für viele (wie für mich) braucht es nur die klassischen Stichworte wie Gnade, Kreuz, Barmherzigkeit etc. und bekannte Lieder, um einen ganzen Sack an Bildern, Gedanken und Verbindungen auszulösen - ohne mich unabsichtlich auf Distanz zu bringen wie manche bemüht "moderne" Form, die oft nicht einmal Raum für Hören und Beten lässt.