Foto: Anika Büssemeier
Ja, meine Ehe war arrangiert!
Jahrelang hat sie drum herumgeredet. Damit ist jetzt Schluss.
09.10.2012

Sosan Azad, 45:

„O Gott, was hast du denn für Eltern?“ Nachdem ich das ein paar Mal gehört hatte, wusste ich: Ich kann hier keinem erzählen, wie ich nach Deutschland gekommen bin. Ich wollte nicht, dass die Leute schlecht über meine Eltern denken. Denn die haben mich nicht ins Unglück gestürzt!

Ich bin in einer kleinen Stadt im Norden Afghanistans auf­gewachsen. Mein Vater war Händler, meine Mutter Lehrerin. Zu Hause lernte ich, wie man kocht, wie man näht und was ein vernünftiges Mädchen ist. Eines, das die Beine nicht ausstreckt, wenn Männer im Raum sind. Wie alle anderen Mädchen, die ich kannte, wollte ich eine gute Ehefrau werden.

Es erschien mir ganz normal, als meine Eltern mir einen Mann aus dem Dorf vorschlugen. Doch dann starb mein Vater, und ­meine Mutter entschied sich für einen Mann, der in Berlin ­studierte und  besser zu mir passte. Noch ohne dass ich ein Bild von ihm gesehen hatte, heirateten wir – seine Mutter vertrat ihn bei der Trauung. Sie brachte mich mit Schmiergeld erst nach ­Indien, dann nach Deutschland. 17 war ich damals.

Ich wusste sofort: Das wird nicht die große Liebe

Bei der ersten Begegnung wusste ich: Es wird nicht die große Liebe. Trotzdem gelang es uns zusammenzuleben, ohne uns viel vorzumachen. Für mich ging es ja ums Überleben: Ich war dem Krieg entkommen, die Sowjets waren noch im Land. Große Liebe, darüber überhaupt nachzudenken, war ein Luxus.

Ich bekam Asyl, ging zur Schule, studierte. Und ich lernte, in zwei Welten zu leben. Denn sobald ich meine arrangierte Ehe erwähnte, waren alle entsetzt. Anfang der 90er Jahre waren an der Uni die meisten feministisch drauf, die konnten mich nur be­dauern. Aber ich wollte das Mitleid nicht. Ich dachte mir: Hör auf, deine Mitmenschen damit zu belasten. Wie ein Sprichwort bei uns sagt: „Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um das, was für die Situation gut ist.“

Wie von selbst erfand ich eine andere Geschichte. Nur ein paar Freunde waren eingeweiht. Allen anderen aber, die mich fragten, an der Uni, beim Arzt oder beim Friseur, sagte ich: Meinen Mann habe ich in Indien kennengelernt, im Urlaub. Im alternativen ­Milieu schien das nicht uncool. Endlich hatte ich meine Ruhe.

Nach über zehn Jahren trennten wir uns, mein Mann ging nach Afghanistan zurück. Ich blieb, trotz Heimweh, und beschäftigte mich beruflich viel mit Integration. Dabei wurde mir klar: Ich kann mit meinem Leben zeigen, dass es geht, in mehreren Kulturen gleichzeitig zu existieren. Als Muslimin arbeitete ich bei der Diakonie, mein neuer Freund war Jude. Mich da nur als Deutsche zu sehen, wie das viele wünschten, wie sollte das gehen? Und warum sollte ich alles loswerden, was mich früher geprägt hat?

So beschloss ich, über meine Ehe zu sprechen. Bei der Arbeit gewöhnte ich mir an, die Leute erst ein bisschen zu testen. Wenn ich merke, sie wollen etwas verstehen, dann erzähle ich. Ich habe heute allerdings auch den Luxus, dass ich meist vor aufgeschlossenen Leuten stehe, weil ich mit meiner Firma „Streit entknoten“ Mediation anbiete.

Bevor ich von meiner Ehe spreche, teste ich die Leute

Neulich zum Beispiel, in Sachsen, gingen den Leuten die ­Augen auf, als ich in der Seminarpause von meiner arrangierten Ehe erzählte. Viele waren überrascht, dass ich ein so lockerer, glücklicher Mensch bin. Dass ich trotz allem etwas erreicht habe. Sie sahen: Auch Muslime können sich trennen, es muss nicht immer alles in einem Drama enden. Und sie wollten immer mehr von mir wissen. Ich bat sie: Fragt auch andere Leute und gebt ihnen die Chance, die Wahrheit zu sagen.

Bei manchen Freunden aber fürchte ich, das Vertraute zwischen uns könnte verloren gehen, wenn sie es erfahren. Andere dagegen bitten mich, mal wieder von meiner Geschichte zu erzählen. Wir können uns gut darüber amüsieren. Etwa über die Situation, wie ich meinem Mann das erste Mal begegnet bin: Zwei Fremde ­stehen sich gegenüber, unsicher, was sie miteinander anfangen sollen – dabei sind sie längst ein Ehepaar!

Heute kommt mir das völlig verrückt vor, was ich damals so hinnahm und als normal erlebte. Ich habe mich damit versöhnt und genug Selbstbewusstsein und Distanz gewonnen, um darüber lachen zu können.

Protokoll: Bernd Schüler

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Die Autorin sollte dringend das Buch «Das Drama des begabten Kindes» von Alice Miller lesen. Ganz offensichtlich hat sie das ihr angetane Unrecht verdrängt und bagatellisiert es. Das ist ganz normal, birgt aber die Gefahr der Wiederholung an anderen. Frau Miller hat dieses Problem als eine der ersten erkannt und dazu noch einige weitere Bücher geschrieben. Ein Beitrag über sie wäre sicher auch für Chrismon eine lohnende Aufgabe.

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Das eigentlich schlimme ist doch, dass sich diese Menschen aus dem "alternativen ­Milieu", die arrangierte Ehen nicht akzeptieren können, kennenlernen in Indien aber cool finden, vermutlich für unheimlich offen und für unheimlich interessiert an fremden Kulturen halten. Ich finde es traurig, dass man nicht aus einer anderen Kultur zu uns kommen kann, ohne seine Biografie verbiegen zu müssen.