Dirk von Nayhauß
Jüdin und Piratin - das verträgt sich sehr gut
Fürst Bolkonski muss sterben, und ich mache mir Sorgen um die Matheprüfung? Im Abistress hatte Marina Weisband eine Erkenntnis
Dirk von Nayhauß
28.08.2012

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Gehe ich durch eine Stadt, habe ich manchmal plötzlich das Gefühl: Es ist alles in Ordnung. Gott hat einen Platz für mich geschaffen, und es gäbe ein ichförmiges Loch, wenn ich nicht da wäre. Das Gefühl: Die Erde ist unter mir und der Himmel über mir. Alles fügt sich zu einem Tanz. Als Kind kannte ich diese Leichtigkeit noch nicht, da hatte ich immer das Gefühl, ich gehöre gar nicht in die Welt. Alle feiern eine Riesenparty, ich aber bin nicht eingeladen. Ich wurde in der Schule jahrelang gehänselt, ich galt als hässlich. Das war Common Sense, niemand hat dem widersprochen und ich schon gar nicht. Das Witzige ist ja: In­zwischen habe ich das Etikett „schöne Piratin“ aufgedruckt bekommen. Und seitdem empfinde ich mich selbst auch als schön. Ich würde am liebsten eine Klasse gemobbter Außenseiter versammeln und ihnen klarmachen, wie relativ das alles ist, was sie durchmachen, und dass sich das alles komplett ändern kann.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Keine Angst vor Fehlern zu haben. In die Situation reinzugehen, einfach auszuprobieren und nicht über mögliche Folgen nach­zudenken. Als ich ganz klein war, bin ich in ein Land gezogen, dessen Sprache ich nicht kannte. Ich war allein zur Kur an der Nordsee, was traumatisch war, weil ich nichts von dem verstand, was die Leute von mir wollten. Ich bin ohne Sprache in die erste Klasse gegangen, meine Eltern haben mich nicht begleitet, ich hatte keine Schultüte. Ich wurde oft in Situationen reingeworfen, in denen ich experimentieren und drauflosmachen musste.

An welchen Gott glauben Sie?

Ich war Atheistin, aber in der Abizeit hat sich das sozusagen über Nacht geändert. Es war am Abend vor der Matheprüfung, ich hatte furchtbare Angst. Zur Ablenkung las ich „Krieg und Frieden“, und zwar ebenjene Stelle, in der Fürst Bolkonski stirbt. Das war ein Schlüsselmoment in meinem Leben, weil ich dachte: Er stirbt, für ihn ist alles vorbei, er wird nie wieder Blüten von einem Busch pflücken – und ich mache mir Sorgen um meine Matheprüfung! Das war ein Moment, in dem ich Gott gespürt habe. Ich habe heute das Gefühl: Was auch immer mir passiert, der Himmel wird über mir sein. Ich vertraue diesem Gott, er passt auf mich auf! Vielleicht lande ich irgendwann in einem ukrainischen Gefängnis oder ich verliere einen Arm, aber dabei kann nichts schiefgehen. Es verträgt sich sehr gut, dass ich Jüdin bin und Piratin. Der jüdische Glaube basiert auf Diskurs. Jüdische Gläubige sind aufgefordert, zu hinterfragen und zu zweifeln und sich miteinander zu streiten. Die gesamte talmudische Tradition folgt dem Prinzip: Man formuliert die Gegenthese zu dem, woran man glaubt, und dann versucht man, diese Gegenthese zu vertreten, um das, woran man glaubt, besser zu verargumentieren. Ich liebe diese Kultur von Dialektik, von Diskussion. In dem Jahr als Politische Geschäftsführerin habe ich sehr selten an Gott gedacht. Ich war in diesem Jahr fast gar nicht in der Synagoge, wofür ich mich unglaublich schäme. Ich habe vieles vernachlässigt, was mich Gott nähergebracht hat; zum Beispiel ist es richtig, den Sabbat einzuhalten, so findet man Ruhe, über die grundlegenden Dinge nachzudenken. Dazu kommt man als Politikerin sehr selten.

Muss man den Tod fürchten?

Ich fürchte den Tod nicht, ich fürchte Krankheit, diese Erfahrung habe ich sehr früh gemacht, ich war als kleines Kind sehr lange bettlägerig. Ich weiß, wie das ist, wenn einen der eigene Körper im Stich lässt: Man will etwas tun, aber es geht nicht. Ich möchte nicht darüber reden, was ich damals hatte, aber wahrscheinlich kam es durch Tschernobyl. Wegen meiner Krankheit kam ich auch nach Deutschland.

Welchen Traum möchten Sie sich unbedingt erfüllen?

Viele meiner Träume sind wahr geworden. Ich wollte, als ich klein war, berühmt werden; das habe ich geschafft, und das ist ein tolles Gefühl! Ich lebe in der festen Überzeugung, dass man seine Träume erreichen kann. Ich möchte irgendwann reich sein, aber nicht weil ich das Geld will, sondern um meiner Familie etwas zurückzugeben. Wir haben damals beim Umzug nach Deutschland das meiste verloren. Ich habe aber auch ganz un­realistische Träume: Ich möchte den Planeten Erde verlassen, möchte auf eine Raumstation oder auf andere bewohnte Planeten. Ich möchte Prinzessin sein. Wieder ein politisches Amt zu übernehmen, das wäre kein Traum, aber möglicherweise ist es eine realistische Aussicht. Ich überlege mir zurzeit sehr gründlich, ob ich für den Bundestag kandidiere.

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"...aber nicht weil ich das Geld will, sondern um meiner Familie etwas zurückzugeben."

Ihre Jugend stellt sich der Erkenntnis noch in den Weg, will all Ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, so dass Sie nicht erkennen „Sie nicht berühmt aber bereits sehr reich sind“. Ob dieses Reichtum sind sie sehr beliebt, nicht berühmt oder gar berüchtigt :)

Und Ihrer Familie könnten sie niemals mehr zurückgeben, wie sie es bereits taten. In keiner anderen Währung von dieser Welt. Ich bin mir sicher, ihre Familie ist sehr, sehr stolz auf Sie. Nicht von dem Stolz, der einer Uniformen auf der Haut bedarf, nein, von dem, der im Innenren getragen und nur in Haltung und aus den Augen nach außen scheint.

Passen Sie gut auf unseren Schatz auf, wir haben viel zu wenige davon.

Jürgen

PS: Wenn Sie sich aufmachen, sie wissen schon zu den Sternen, rufen Sie an,ich begleite Sie ein Stück weit :)

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Träume und die Politik eines Landes zu beeinflussen, sind eine Mischung für einen Roman, ich jedenfalls möchte meine Belange nicht einem Träumer überlassen, schliessslich sind seine Träume nicht meine Träume !
Deutlich wird aber der Versuch, Heimatlosigkeit durch Traumdeutung, Traumflucht, zu ersetzen, und wer schon einmal ein politisches Amt aus psychischen, gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat, kann sicher sein, dass es sich wiederholt. Versteckter Ehrgeiz, Narzismus führen vielleicht zu Gott, aber Politik und Träume sind krankhafte Geltungssucht. Selbst wenn es demjenigen gelingen sollte, die Spanne zwischen den Extremen zu halten, so fände ich dieses Konstrukt als Eigensucht, und absurd. Berühmtheit, Karriere und Gott, und das als Erfüllung der Träume...,Deutschland, Du bist irre !!! ------------------------------------PS. Selbst die Wirtschaft monierte zu junge Studienabgänger mit den Worten: man wolle Persönlichkeiten, nicht Absolventen !
Das gleiche sehe ich hier. Der Jugendwahn und Popkultur werden allzu deutlich. Politik ohne Persönlichkeiten führt in seichte Gewässer, das Schiff strandet.
Eine " kleine " Schwarzseherei zur Beherzigung ! Und zur Berühmtheit: Kleinmädchentträume ! Der Schmeichler spricht die Wahrheit, innerer Reichtum ist mehr wert als alle äußeren Güter. Geld zu haben, ist unser menschliches Bedürfnis heute, aber kein Traum !

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Gott bewahre uns vor Politikern, die allen Ernstes glauben, dass sie ein "ichförmiges Loch" hinterließen, wenn sie nicht mehr da wären!
Diese Aussage von Frau Weisband offenbart eine beängstigende Hybris.
Erschreckend naiv auch ihre Äußerung "Ich wollte, als ich Kind war, berühmt werden; das habe ich geschafft, und das ist ein tolles Gefühl!"
Wenn es nur dieses eitle Drängen war und nicht Leidenschaft, Sachkenntnis und Verantwortungsgefühl, welches sie in die Politik getrieben hat, dann erleichtert es mich sehr, dass sie ihr Amt als Politische Geschäftsführerin rechtzeitig niedergelegt hat.