„Natürliche Schönheit kommt von innen“ – mit diesem Slogan warb in den 80er und 90er Jahren ein großes Pharmaunternehmen für ein Präparat, das schöne Haut, feste Fingernägel und glänzendes Haar versprach. Abgesehen von der unfreiwilligen Komik, die darin liegt, dass ausgerechnet ein Pharmaunternehmen das Ideal der Natürlichkeit propagiert, gibt dieser Werbespruch auf eine ebenso geniale wie einfache Art nicht nur die Träume und Ideale unserer Gesellschaft wieder, sondern vor allem auch ihre Irrungen und Wirrungen.
Schönheit mag alles Mögliche sein, eine höchste Idee etwa oder ein absolutes Ideal, nur eines ist sie mit Sicherheit nicht – natürlich. Schönheit ist ein ästhetischer Begriff. Und das bedeutet, dass sie nur im Kopf des Betrachters existiert. Das Schöne, ebenso übrigens wie das Gute, ist eine Erfindung des Menschen. Was unter anderem zur Folge hat, dass darüber, was als schön zu gelten hat, die Meinungen teilweise erheblich auseinandergehen. Verlängerte Hälse, vergrößerte Ohren, Fettleibigkeit gelten in der einen Kultur als Zeichen großer Schönheit – woanders werden sie als ausgesprochen hässlich und entstellend empfunden.
Eine ewige, zeitlose Natur gibt es nicht
Vermutlich war es sogar die Erfahrung mit anderen Kulturen, die Menschen immer wieder dazu brachte, einen Anker zu suchen, einen festen Punkt, an dem sich ihre jeweiligen Wertvorstellungen festmachen ließen. Ein idealer Kandidat, um menschliche Normen dem Bereich des Zufälligen und Beliebigen zu entziehen, schien dabei die Natur zu sein. Doch gerade sie erweist sich bei näherer Betrachtung als alles Mögliche, nur nicht als statisch und unveränderlich. Jedes Bild einer ewigen, zeitlosen Natur ist eine menschliche Konstruktion, ebenso wie die Normen und Werte, die es legitimieren soll.
Die Vorstellung einer „natürlichen Natur“ scheitert nicht nur daran, dass es eine ewige, zeitlose Natur nicht gibt. Ebenso unmöglich ist es, innerhalb der Naturgeschichte einen Zeitpunkt anzugeben, ab dem etwas Unnatürliches die angeblich unberührte Natur zu entstellen begann. Mangels greifbarer Alternativen wird meist eine menschliche Entwicklungsstufe als ein solcher Wendepunkt ausgegeben. Doch welche menschliche Entwicklungsstufe sollte das sein? Urvölker, die ja auch Feuer, Waffen und anderes Gerät besitzen, mit dem man allerlei Unfug anstellen kann, finden zumeist noch Gnade vor den Augen der Naturfreunde. Aber wo beginnt dann der große Entfremdungsprozess? In der Antike? Im Mittelalter? Ist die Erfindung des Rades noch natürlich, die des Verbrennungsmotors aber nicht mehr?
Der Mensch - die Krone der Schöpfung?
Die Idee, dass es überhaupt etwas „Unnatürliches“ gibt, beruht auf einer Umwertung der jahrtausendealten Vorstellung, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Stattdessen erscheint er nunmehr als deren Fremdkörper. Zweifellos stellt der ursprüngliche Gedanke, dem Menschen einen Platz gleichsam außerhalb der Natur zuzusprechen, eine enorme zivilisatorische Leistung dar. Sie besteht darin, einen kulturellen Bereich zu definieren, in dem nicht die Gesetze des Tierreiches gelten, sondern menschliche Regeln.
Dort, wo Tiere instinktiv handeln, gab sich der Mensch ethische und soziale Normen, an die er sich – zumindest hin und wieder – sogar hält. Diese menschliche Kultur ist jedoch weder erhabene Geistessphäre noch widernatürliche Gegennatur. Sie ist eine weitere Stufe der Evolution, die es Lebewesen ermöglicht, neue Formen des sozialen Handelns zu entwickeln. Kultur und Zivilisation sind Natur. Es gibt auf dieser Welt nichts Künstliches.
"Natürlichkeit" ist ein ideologischer Kampfbegriff
Rousseau wird damit zum Vordenker einer unguten Tradition, die, ausgehend von der Romantik, das geistige Klima, besonders in Deutschland, nachhaltig geprägt hat. Insbesondere ab den 1880er Jahren bestimmen zunehmend antimoderne Strömungen das geistige Klima in Deutschland. Man sehnt sich nach einem natürlichen, echten und authentischen Leben. Zugleich wird alles bekämpft, was als degeneriert und entartet empfunden wird.
Eine angstbesetzte Abwehrreaktion gegen die Moderne
Die Sehnsucht nach Natürlichkeit und Authentizität ist eine angstbesetzte Abwehrreaktion gegen die Moderne. Die folgenschwerste unter den antimodernen Bewegungen war sicher der Nationalsozialismus. Allerdings finden sich zivilisationsfeindliche Naturverehrung und Antiintellektualismus nicht nur bei der extremen politischen Rechten, sondern auch bei Teilen der fortschrittsskeptischen Linken, namentlich der Ökologiebewegung.
Protestanten und der ideologische Naturbegriff
Trekkingsandalen: ein Ausdruck von Ernsthaftigkeit?
Die Neigung zur Zivilisationskritik liegt in der Geschichte des Protestantismus begründet. Unter dem Kampfruf „Allein durch die Schrift!“ wendete sich die Reformation gegen alles, was das Christentum in den Jahrhunderten zuvor kulturell überbaut und verzerrt hatte. Was als theologisches Anliegen im Namen der Freiheit jedoch richtig und legitim war, um Machtansprüche zu hinterfragen, deren einzige Legitimation die Tradition war, wird – übertragen in andere Lebensbereiche – totalitär, geistlos und inhuman.
"Lasst uns unnatürlich sein!"
Doppelpunkt 11,2011
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Doppelpunkt11,2011
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Meinen herzlichen Glückwunsch
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Natur oder Zivilisation?
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Der konsumorientierte Verstand
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Bravo Herr Grau, couragierte
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Natur und Theodizee
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Die zu diskutierende Frage
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Wie unterscheiden wir Gut und
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Folgenabschätzung
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doppelpunkt, Alexander Grau aus chrsimon 11-2011
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Alexander Gau: Kann man natürlich, echt, authentisch sein?
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Ausgrenzung und Unterdrückung im Namen der Zivilisation
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doppelpunkt - Alexander Grau
Zu: chrismon 11/2011, Seite 38: doppelpunkt
Der traditionelle Naturbegriff bezieht sich auf die Schöpfung des gesamten Kosmos‘, insofern sie kein Produkt menschlicher Aktivität ist. Die wissenschaftlich fundierte Ökologie bezieht die Rolle des tätigen Menschen in den Wirkzusammenhang der Naturprozesse mit ein. Jean-Jacques Rousseaus überspitze Warnung »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen« hat somit ihre seriöse Grundlage und Berechtigung. Der Urheber einer modernen Gesellschaftstheorie, Pädagogik und Ökologiebewegung spricht keineswegs der menschlichen Untätigkeit das Wort. Was wir in unserer hoch zivilisierten und technisierten Welt erreichen können, zeigen die ersten Erfolge einer ökologisch bestimmten Korrektur der verheerenden Eingriffe in den Naturzusammenhang. Allerdings hat dieser Kampf gerade erst begonnen; und ob wir ihn gewinnen können, ist noch nicht ausgemacht. Alexander Grau gießt mit seiner Kritik an JJR und der Ökologiebewegung das Kind mit dem Bade aus. Er trägt damit zur Verharmlosung unserer rüden Ausbeutung der lebensnotwendigen Ressourcen bei.
Alfred Schubert, Wunstorf-Steinhude
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Alexander Grau / Doppelpunkt
Rückwärtsgewandt, auf hohem Reflexionsniveau! Herr Grau sollte begreifen, dass Ökologie und Nachhaltigkeit (und das darin enthaltene Authentizitätskonzept) zentrale Hoffnungsbegriffe des 21. Jahrhunderts sind. Nachzulesen z.B. in dem Werk des nach vorne orientierten Philosophen Gernot Böhme. W. Ley / Heidelberg
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Alexander Grau
Liest man den Text von Alexander Grau mit seiner haarsträubenden Kritik des klassischen Protestantismus, falls man es so nennen darf, so müsste man meinen, die Protestanten seien vollkommen rückständig in ihren Ansichten.
Meint der Autor allen Ernstes den heutigen Protestanten damit ? Ich kann es kaum glauben.
Ich selbst fühle mich durch die Art der Internetpseudokommunikation völlig angewidert. Diese Art der Kommunikation ist doch zeitgemäss und fprtschrittlich, aber es ist eine große Illusion, zu glauben, dies hätte Zukunft. Das Internet ist ein sehr zweifelhaftes Medium für zwischenmenschliche Kommunikation.
Es verleitet zu verbalen Schnellschüssen ala Alexander Grau.
Nein, danke.
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Widerspruch und Dank
ich möchte Ihnen an folgender Stelle widersprechen:
Zitat: „Als geistiger Vater dieses Denkens muss der Genfer Philosoph und Privatgelehrte Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gelten. Anders als die meisten Theoretiker vor ihm sah er als Grund allen Übels nicht etwa die angeborene Natur des Menschen, seine Neigung zu Gewalt und Grausamkeit, sondern die Zivilisation.“
Ich bin der Ansicht, dass das Problem der Verantwortlichkeit für den „Sündenfall“ schon viel früher thematisiert wurde, nämlich eben in der von Ihnen zitierten „jahrtausendealten Vorstellung“, dass der Mensch als „Krone der Schöpfung“ geschaffen wurde. Diese Vorstellung begründete für die damalige Zeit logisch, warum sich der Mensch vom instinktgebundenen Tier durch ein entscheidungsfähiges Bewusstsein unterschied: war er doch von Gott selbst als Verwalter der gesamten belebten und unbelebten Schöpfung auserkoren. Mit der Entscheidungsfähigkeit schlich sich die „Schlange“ ins Paradies, die Möglichkeit falsche Entscheidungen zu treffen, die der perfekten göttlichen, „natürlichen“ Ordnung zuwiderliefen. Insofern ging Rousseau völlig konform mit den Autoren der biblischen Schöpfungsberichte, als dass Gott eben nicht die menschliche Grausamkeit und Gewalt schuf (höchstens die Systemvoraussetzungen dazu), sondern der Mensch selbst sich diese üble Software nachträglich auf seine ursprünglich göttlich-saubere Festplatten aufgespielt hat. Und da Gott den neugeschaffenen Verwalter nach dem Schöpfungsbericht nicht allesamt in fertige Städte und Dörfer setzte, war das, was die Menschen nach und nach aus eigener Kraft schufen – eben die Zivilisation – mit dem Makel der falschen Entscheidung behaftet.
Sie haben in einem Punkt recht: Hätte Gott völlige göttliche Natürlichkeit seiner Schöpfung gewollt, so hätte er den Menschen als Diener der Schöpfung ohne eigenen Willen erschaffen müssen. Wir lebten glücklich, aber in unabänderlicher Ignoranz, wie die Menschen in Aldous Huxleys „Brave new World“: Mag sein, dass so mancher sich heute in Zeiten der Globalisierung und Eurokrise dieses „Paradies“ wünscht ohne zu wissen, dass der Preis für völliges Glück immer der Verlust der Freiheit sein muss.
Ich danke Ihnen für diesen höchst interessanten Artikel und die Nüsse, die Gott mir durch Sie wieder einmal zu knacken gegeben hat!
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Satire, Provokation oder Ignoranz?
Nach Lesen des Artikels habe ich mich gefragt: Ist das Satire, Provokation oder Ignoranz? Geht es dem Autor um Auswüchse oder Verunglimpfung der Öko-Bewegung?
Ohne auf die Aussagen eingehen zu wollen, kann es bei dem derzeitigen Bevölkerungswachstum mit steigendem Ressourcenverbrauch ein "Weiter-so"
nicht geben, wenn die "Krone der Schöpfung" noch eine Zukunft haben will.
Ich fühle mich weder als Antisemit noch als Öko-Faschist, wenn ich die Siedlungspolitik Israels verurteile, als Liberaler das Primat der Politik über die Finanzwirtschaft fordere, Novalis schätze und mir die "Ehrfurcht vor dem Leben" ein Leitbild ist.
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Schönheit ist göttlich
Dieser Beitrag von Herrn Grau, Professor für Philosophie in München, ist symptomatisch für den kranken Protestantismus, den Sie propagieren; er zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Publikationen.
Ich bin völlig davon überzeugt - im Gegensatz zu Ihrem Autor -, daß Schönheit nicht nur natürlich, sondern eben göttlich ist.
Ein Beispiel: Ich gehe an der Alster in Hamburg spazieren, eine Möwe legt eine geknackte Miesmuschel auf ein Brückengeländer, beide Hälften liegen so, als warte der vom Papst erwähnte "creator spiritus" nur darauf, daß jemand diese zwei Hälften an sich nähme. Ich tue es und bin fasziniert vom Perlmutt der
Muscheln, die außen unansehnlich, innen aber wundervoll und bunt glitzernd sind, ausgesprochen schön.
Diese Muscheln sind natürlich, sie sind es immer gewesen, und ich denke: zu jeder Zeit und Epoche, hat der Betrachter diese Innenwelt des Gegenstandes als etwas faszinierend-schönes empfunden.
Warum zweifelt Ihr Autor daran?
Ich muss mich nicht zwingen oder erst kulturell definieren, um Schönheit zu sehen; es braucht freilich ein gesundes Auge. Und wäre natürlich. Oder auf Altgriechisch: "haplous" - einfach.
Ob Herr Grau das hat? Ob Sie das haben, als pseudo-christlicher Weichspüler?
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Missverständnis von Rousseau
Der Philosoph Alexander Grau scheint in seinem Artikel einem klassischen Missverständnis aufgesessen zu sein. Rousseau wollte keineswegs, dass die Menschen, wie man ihm polemischerweise gerne vorwarf und vorwirft, wieder auf den Bäumen hocken. Und die Ausdrücke "Antiintellektualismus" und "Antimodernismus" sind selbstverständlich auch nichts anderes als Kampfbegriffe, mit denen die Haltung bestimmter Menschen diskreditiert werden soll. Es geht hier nämlich nicht um die Hochpreisung der Dummheit und auch nicht um irgendeine Ewiggestrigkeit oder Hinterwäldlerei. Es geht um die Pflicht des denkenden Menschen, die Gesellschaft möglichst differenziert zu betrachten und gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu erkennen und das auch auszudrücken. Alles Moderne a priori als gut anzusehen, ist naiv und vielleicht auch das größte Problem unserer Zeit. Ihrem Autor ist hier in seinem tatsächlich etwas verwirrten Artikel einiges gehörig durcheinandergeraten.
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Wie unterscheiden wir Gut und Böse?
Wow, starker Tobak gegen ein Weltverständnis, das Zivilisation abtut und als Ausgeburt des Bösen brandmarkt. Dabei kann man dann auch so schön sicher sein, im Kampf gegen so etwas Künstliches wie Wirtschaft und Technik auf der guten Seite zu stehen. – Insofern also Zustimmung zur Entlarvung eines falschen Begriffs des „Guten“.
Allerdings Vorsicht: Die Trennlinie zwischen Gut und Böse war zu allen Zeiten unscharf und ist es heute mehr denn je. Unsere Lebenswelt wird zunehmend komplexer, und nach den Gesetzen solcher Systeme („Chaostheorie“) sind wir außerstande, die Folgen unseres Tuns abzuschätzen. Wir können also die Grenze zwischen Gut und Böse unseres Handelns kaum erkennen. Ein bedrückendes Beispiel: Nicht einmal Albert Schweitzer konnte in seinem ethischen Impuls ahnen, dass die Verbreitung westlicher Medizin die schlimmste aller Umweltkatastrophen heraufbeschwören würde: das grenzenlose Wachstum der Menschheit.
Gut und Böse sind ineinander verwoben, und auch wir können die Folgen unseres Tuns nicht beurteilen. Richtig, bloßes „Gutmenschentum“ ist unbedarft. Doch was wir brauchen sind Denkwege, die Gefahren nicht „fühlen“ („Bio ist gut und Chemie ist böse“), sondern sie frühzeitig rational zu erkennen versucht. Das Feld darf weder Technokraten oder Ökonomen überlassen werden, noch dürfen selbsternannte Moralapostel darüber befinden. Wissenschaft, Philosophie und Religion, jene Dreiheit der Universitas literarum, die sich aus berechtigten Gründen in der Aufklärung trennte, steht heute vor der Notwendigkeit, wieder zueinander zu finden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
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anregender Beitrag
Im Tenor, in der großen Linie stimme ich dem Beitrag zu, daß der Gebrauch des Wortes natürlich kritisch reflektiert geschehen soll. - Authentisch dagegen wird in der Gleichsetzung zu echt und natürlich falsch verstanden, da es sich auf die Identität von Denken, Kommunizieren und Handeln bezieht. Das ist nicht mit der Rede vom Natürlichen, von der Gleichsetzung von Natur mit "irgendwie gut, wertvoll und richtig" gleichzusetzen. Mit der Wertschätzung des Individuums hat authentisch viel zu tun.
Vor allem aber bedarf (wie ich meine) der Hinweis auf Rousseau als den "geistigen Vater dieses Denkens" einiger kritischer Anmerkungen. Die Wende gegen Rousseau halte ich für sehr verkürzt, weil Rousseaus Begriff des Naturzustandes platt realistisch, verdinglicht gelesen wird. Bei den folgenden Passagen (S. 39) wird dann nicht klar genug, ob sich die Aussagen auf Rousseau selbst oder auf ihn als "Vordenker einen unguten Tradition" beziehen. Bei Rousseau selbst wäre die "Abwehrreaktion gegen die Moderne" subtiler darzustellen, weil er Positionen der "Dialektik der Aufklärung" vorwegnimmt und die modernen Zentralbegriffe Freiheit und Gleichheit selbst als brüchig und in sich widersprüchlich, eben als Quelle einer Wende gegen Freiheit und Gleichheit als Verlassen der Natur interpretiert. Der Naturzustand steht nicht für eine Realität, sondern er ist ein Konstrukt der freien und gleichen Möglichkeiten des Einzelnen und der Gemeinschaft. Den Chancen, sich diesem vergangenen, vergehenden Zustand so weit wie möglich individuell oder gemeinschaftlich sich zu nähern, widmen sich Emile und der Contrat Sociale, aber im zweiten Diskurs über die Ungleichheit ist klar die Rede davon, daß das Ideal nie in toto rekonstruiert werden kann. Das führt zur letzten Anmerkung zu dem Beitrag in Ihrer Zeitschrift: Der großen Intention kann ich folgen, aber - mit Rousseau, Horkheimer/Adorno, Theoretikern des deutschen Idealismus und vielen anderen, politisch z.B. M. Weber - die Moderne hat auch ihre dunklen Seiten, ihre Auf- und Abspaltungen, keineswegs mündet sie so bruchlos und vollkommen in die "Feste des Humanen." Gerade Rousseau ist ein Autor, der solche Brüche darstellt und faßbar werden läßt. Eine Kritik Rousseaus sollte folglich detaillierter und subtiler ausfallen. Irreführend ist es vor allem, wenn so platt, wie dies im Artikel geschieht, ein Bogen von Rousseau zur Romantik, zum Antisemitismus und Nationalsozialismus gezogen wird. Die Kritik der "der fortschrittsskeptischen Linken, namentlich der Ökologiebewegung" dürfte dann auch etwas umfangreicher ausfallen. An diesen Stellen wäre wohl weniger mehr gewesen, es fallen einfach zu viel Begriffe, von jeder ein Wort mehr verdienen würde.
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In der Summe sehen Sie aber auch, daß der Artikel Ihres Autors anregend ist.
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