Ich war extra vorsichtig: „Ruhige Fahrweise bevorzugt“, schrieb ich in mein Mitfahrgesuch auf der Internetseite „www.mitfahrzentrale.de“. Ich wollte von Frankfurt am Main nach Dortmund. Andrea, so ihr Name, nimmt häufiger Leute mit, für 15 Euro. Ganz interessant, wen man auf dem Weg aus dem Schwäbischen, wo sie unter der Woche arbeitet, ins Ruhrgebiet so kennenlernt. Ein Mitfahrer war Andrea in Erinnerung geblieben, weil er nach eigener Auskunft der einzige Chinese in Crailsheim war. Und vor allem: weil er freiwillig auch dann noch auf der Rückbank sitzen blieb, als der Beifahrersitz schon frei geworden war. „Das war ein Tag wie heute, ich war verabredet und wollte pünktlich sein. Und weil es ging, fuhr ich schnell“, sagte Andrea, als wir am Gambacher Kreuz auf die A 45 wechselten und der Verkehr sich lichtete. „Da hatte er wohl Angst.“
In China gilt auf Autobahnen ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern. Höchstgrenzen gibt es überall auf der Welt. Ausnahmen sind Afghanistan, Bhutan, Burundi, Haiti, Libanon, Mauretanien, Myanmar, Nepal, Nordkorea, Somalia, der indische Bundesstaat Uttar Pradesh, dazu noch Vanuatu, ein Inselstaat. Und Deutschland, das umgeben ist von Ländern, in denen Autofahrer maximal 130 fahren dürfen. Hierzulande darf auf über der Hälfte der rund 12 800 Autobahnkilometer gerast werden.
Dabei gibt es für ein allgemeines Tempolimit viele Gründe: Fahren alle etwa gleich schnell, fließt der Verkehr flüssiger, es gibt weniger Staus. Raser und Drängler können keinen Stress mehr verbreiten, wenn sie mit Lichthupe dicht auffahren. Der Treibstoffverbrauch sinkt, bei einem Tempolimit von 120 geht der CO₂-Ausstoß um zehn Prozent zurück. Das hilft dem Klima, es spart Geld, und es macht das Land weniger abhängig von teuren Ölimporten. Daher empfiehlt auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Tempo 130 auf Autobahnen. Das würde der Automobilindustrie dringend notwendige Anreize liefern, das PS-Wettrüsten zu stoppen. Es wäre überfällig. Wenn sich die westliche Vorstellung von individueller Mobilität weltweit durchsetzt, funkioniert das nicht mit dicken Spritschluckern, sondern höchstens mit sparsameren Modellen, die nicht so raumgreifend sind.
Die Straßenverkehrsordnung - eine Bastion der Liberalität?
Gegner des Tempolimits verweisen auf ihre Freiheit: „Freie Fahrt für freie Bürger.“ Dabei ist es in unserer Gesellschaft doch – zum Glück! – Konsens, dass die Freiheit des Einzelnen genau dort ihre Grenzen findet, wo die Freiheiten anderer beginnen. Es drängelt sich ja auch niemand im Supermarkt an der Kasse vor und ruft: „Die Freiheit, hier so schnell wie möglich zu bezahlen, nehme ich mir!“ Autobahnen befördern solches Verhalten: Blinker raus, Lichthupe und immer drauf los. Die Straßenverkehrsordnung als Bastion der Liberalität?
Die Begrenzung anderer Freiheiten nehmen wir jedenfalls klaglos hin: Raucher müssen vor die Tür oder in Raucherbereiche, die an Käfige erinnern. Ist ja auch verständlich, Passivrauchen macht krank. Massenproteste dagegen, dass Unternehmen und der Staat unsere Kommunikationsdaten speichern wollen? Kaum bekannt! Und um Terroranschläge zu verhindern, sind viele bereit, sich in Körperscannern bis auf die Haut durchleuchten zu lassen.
Gegen jede Gefahr wappnen wir uns. Dem Wissenschaftler, der heute eine Krankheit entdeckt, die jedes Jahr 500 Menschen umbringt, sind die Schlagzeilen von morgen sicher. Und dann würde gründlich vor den Ursachen der Krankheit gewarnt. Bloß kein Risiko eingehen! Aber dass jedes Jahr in Deutschland an die 500 Menschen bei Unfällen auf Autobahnen ums Leben kommen und weitere 5000 schwer verletzt werden, taucht nur in kurzen Zeitungsmeldungen auf. Stattdessen verweisen ADAC und Bundesverkehrsministerium darauf, dass Autobahnen zu den sichersten Straßen der Welt gehören. Kein Wunder. Auf Autobahnen gibt es keine unfallträchtigen Kreuzungen, der Verkehr fließt nur in eine Richtung; damit fallen zwei wesentliche Unfallursachen weg. Aber mit Tempolimit könnten die Autobahnen noch viel sicherer sein. Die Hälfte der tödlichen Autobahnunfälle geht auf überhöhte Geschwindigkeit zurück. Nicht zu vergessen: Ein Tempolimit kann auch auf Straßen abseits der Autobahn Leben retten, weil es Aggressivität aus dem Verkehr nimmt.
Nico hat seine eigene Kontra-Tempolimit-Theorie
Was treibt die Schnellfahrer an? Mein Freund Nico, 36 Jahre alt, arbeitet in einer Unternehmensberatung, als Führungskraft hat er es notorisch eilig. Bald wird er zum zweiten Mal Vater; den Mini hat er deshalb gegen einen Audi-Kombi getauscht. Das wird nichts daran ändern, dass Nico gern schnell fährt, von Stuttgart nach Berlin hat er es schon in sechs Stunden geschafft. „In Brandenburg und Sachsen-Anhalt, da kannst du konstant 200 fahren.“ Fast alle Gründe, die fürs Tempolimit sprechen, kontert er. Sicherere Straßen? Nico hat seine eigene Kontra-Tempolimit-Theorie: „Alle müssen aufpassen, weil alle unterschiedlich schnell fahren. Da fällt niemand in den Sekundenschlaf.“ Weniger CO₂-Emissionen? „Ach, das bringt doch nur ganz wenig, und außerdem: In den USA gibt es auch strenge Obergrenzen beim Tempo, und trotzdem sind die Autos dort übermotorisiert.“
Wie er sich fühlte, als er in Berlin angekommen war, wollte ich noch wissen. „Ich war ganz schön angestrengt. Aber es hat Spaß gemacht, ich war schneller in Berlin als vom Navi vorhergesagt. Super!“ Ist es das? Dieses Gefühl: Ich fahre schnell, also bin ich Herr über meine Zeit? Die „Auto BILD“ schickte zu Testzwecken zwei Mercedes von Flensburg bis ins Allgäu; der eine Fahrer zuckelte gleichmäßig mit 125 Stundenkilometern Richtung Alpen, der andere raste – und war 13 Minuten eher da. 13 Minuten auf 900 Kilometer!
Es geht wohl eher um archaische Gefühle, für die sonst im Leben wenig Platz ist. Es gibt Designer, die den Kühlergrill eines Autos einem aufgerissenen Haifischmaul nachempfinden. Und es gibt Menschen, die viel Geld dafür ausgeben, im Rückspiegel anderer möglichst aggressiv daherzukommen. So war das auch auf meiner Fahrt von Frankfurt nach Dortmund. Andrea raste mit ihrem Opel 160, 170, auch mal 180 Stundenkilometer. Ich hatte den Eindruck, dass das andere Autofahrer schlecht ertragen konnten. Besonders Halter großer Wagen reagieren sensibel, wenn sie von einem Opel-Astra, Kombivariante, überholt werden. Sie zogen verlässlich immer wieder an uns vorbei. Was war ich froh, wenn mir gelegentliche Brückenbauarbeiten zu einer Verschnaufpause verhalfen. Und selbst Schnellfahrer Nico gibt zu: „Diese Drängelei, dieses Aggressive – neulich war ich in der Schweiz, da gibt es das nicht so oft.“
Drei Viertel der Befragten sprachen sich für ein Tempolimit aus
Warum findet sich keine politische Mehrheit im Bundestag, die Straßenverkehrsordnung um einen kleinen Satz zu bereichern – „Auf Bundesautobahnen gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 120 Stundenkilometern“? Wo wir uns sonst doch immer an den Errungenschaften unserer Nachbarn orientieren? Und wo doch sonst alles und jedes geregelt ist! Nur Mut, liebe Politiker, die Wähler dürften das geringste Problem sein – nicht alle sind Raser. In einer repräsentativen Umfrage aus dem Sommer 2007 haben sich fast drei Viertel für ein Tempolimit ausgesprochen.
Es ist wohl eher die Verbundenheit der Politik mit der Autolobby, die Angst hat, ihr inoffizielles Prüfsiegel zu verlieren – „Tested on German Autobahn“? Schließlich kennt man sich. Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der deutschen Automobilindustrie, war selbst fünf Jahre lang Bundesverkehrsminister. Eine bemerkenswerte Verquickung zwischen Lobby und Politik. Peter Ramsauer, CSU, der sechste Verkehrsminister seit Wissmann, lässt auf Nachfrage Textbausteine verschicken: „Mit Bundesverkehrsminister Ramsauer wird es kein generelles Tempolimit in Deutschland geben. Die christlich-liberale Bundesregierung will Mobilität ermöglichen und nicht behindern.“
Zum Glück gibt es keinen Zwang, die Autobahn zu benutzen. In Dortmund angekommen buchte ich mir sofort das Zugticket für die Rückfahrt. Teurer als jede Mitfahrgelegenheit, aber das war es mir wert. Ich kam wesentlich entspannter wieder zu Hause an.
Wer gut schmiert...
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Kontrovers liest sich anders
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Entspannt genießen
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Kurzer Nachtrag
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Segensreicher Zwang?
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Nachtrag
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Leserzuschrift
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Schurkenstaaten ohne Tempolimit
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nicht nur überhöhte Geschwindigkeit
Der Autor Nils Husmann setzt sich für ein Tempolimit in Deutschland ein.
Dabei weist er darauf hin, dass die Hälfte der tötlichen Autobbahnunfälle auf überhöhte Geschwindigkeit zurückgehe. Dies ist keine Frage einer Geschwindigkeitsbegrenzung. Es kommt immer auf die Situation an: so ist bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 km/h möglicherweise ein Tempo von 5o km/h schon überhöht! Wichtig ist immer eine angepasste Geschwindigkeit.
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Politisch vertretbar, aber...
Die Auffassung von Herrn Husmann mag politisch vertretbar sein, wenngleich ich sie nicht teile. Die Synode der EKD sollte aber politische Standpunkte allenfalls dann beziehen, wenn es nicht aus christlicher Sicht gute Gegenmeinungen gibt.
Ansatzpunkt ist insoweit, dass Tempo 130 generell zwar eine verantwortungsvolle Fahrweise bedeutet. Daher ist es wünschenswert, wenn möglichst viele so fahren. Das Tempolimit ist aber darauf gerichtet, schnelleres Fahren zu verbieten. Denjenigen, die dort schneller fahren wollen, wo dies möglich ist, wird misstraut, dass sie nicht in der Lage seien, davon verantwortungsvoll Gebrauch zu machen.
Nur aus der Freiheit wàchst Einsicht in eigene Verantwortung und Rückbesinnung auf Gewissen und Nächstenliebe. Verbote hingegen können insoweit abstumpfen. Dies zeigen auch die Erfahrungen mit Freiheitsbeschränkungen und sozialem Netz im Kommunismus.
Im übrigen ist zu befürchten, dass Autobahnen nach Einführung des Tempolimits durch Herabsetzung des Sicherheitsstandards aus Kostengründen baulich wie in anderen EU-Ländern unsicherer würden, so dass Verstöße häufiger zugleich höhere Unfallgefahr bedeuten würden.
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Die Wirklichkeit ist komplexer
Tempolimit auf Autobahnen - eigentlich ein alter Hut, an dem wieder die deutsche Welt genesen soll. Leider ist die Wirklichkeit etwas komplexer.
- Einsparungen im Benzinverbrauch werden i.w. durch einen stetigen Verkehrsfluss (und dessen Steuerung) sowie durch Reduzierung des spezifischen Verbrauchs erreicht. Hier sind in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Das wird allerdings überlagert durch den steten Anstieg des Frachtverkehrs auf der Straße.
- Ungeachtet von Tempolimit - die meisten Autofahrer nutzen die Höchstgeschwindigkeit ihres Wagens nicht aus. Die individuelle `Vernunft` sollte nicht unterschätzt werden.
- Auch die Werbung als sicheres Indiz für neue Werte hat sich geändert. Sicherheit, Komfort, sparsamer Verbrauch haben längst Beschleunigungs- und Höchstgeschwindigkeitswerte ersetzt. `Freie Fahrt für freie Bürger` ist ein Argument von vorgestern.
- Die Unfallschwerpunkte liegen in Baustellen oder jenseits der Autobahnen, wo unübersichtliche Strecken, Witterung und subjektive Fehler fatale Folgen haben. Trotz örtlicher Geschwindigkeitsbeschränkungen.
Und wenn die Argumente ausgehen, dann ist der Griff zur redaktionellen Rhetorik ein schlechter Ersatz. Ob es die Einordnung Deutschlands in eine Ländergruppe zusammen mit Bhutan und Co ist, die Beschreibung subjektiver Ängste von überzeugten Bahnfahrern oder vermeintliche finstere Strukturen der Autolobby im Hintergrund.
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Neid-basiert
Alle Beiträge zum Thema „Tempolimit“ und „Es gibt keine zu engen Parkhäuser, es gibt zu große Autos“ sind typisch neid-basiert. Jeder, der sich kein schnelles und großes Auto leisten kann oder will, meint, er muss unbedingt über andere Lebensmodelle her ziehen. Es gibt aber Menschen, die Dinge möglichst schnell erledigen wollen und vor allem können. Die anderen fühlen sich mit ihrem Hausfrauen-Tempo am wohlsten.
Ich bin keine Raserin, aber ich fahre zügig. D.h. wenn es möglich ist (d.h. wenn die Autobahn recht frei ist), fahre ich auch mal 220. In den letzten 2 Jahren hatte ich ein einziges Ticket mit >10 km/h Überschreitung auf der Autobahn. Ich drängele nicht und bin immer der Meinung, dass wenn jemand es schafft, mich zu überholen, dann hat er es verdient. Auf längeren Strecken ist ein partnerschaftliches Fahren angenehmer. D.h. fahren und fahren lassen.
Dieses Jahr war ich mehrere Wochen in Dänemark und Schweden im Urlaub. In Dänemark hält sich niemand von den Einheimischen aber rein gar niemand an das Tempolimit. Da gilt die Devise „Tempolimit +30km/h“. Das gleiche gilt für Österreich. Wozu sind denn die Regeln, wenn sich niemand daran hält?
Die Schweden fahren generell gemütlich. Aber die Strecke von Kopenhagen nach Stockholm ist die reine Qual: nach mehreren Stunden mit 110 km/h Begrenzung ständiger Kampf mit Sekundenschlaf, trotz der Tageszeit (zwischen 10 und 16 Uhr) und vielen Pausen. Wegen Unterforderung schaltet sich Gehirn ab. So viel zum Thema weniger Unfälle.
Dagegen würde es weniger Unfälle geben, wenn Menschen endlich lernen würden, Spur auch mal zu wechseln und nicht stundenlang auf der Mittelspur ausharren, wenn die rechte Spur frei ist.
Männer, die 160 oder 170 km/h als „rasen“ bezeichnen, tun mir echt leid. Und wer meint, Bahn wäre eine Alternative, dann viel Spaß mit Verspätungen und Zügen mit ausgefallener Heizung oder Klimaanlage.
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nur ca. 6.000 km
Grüß Gott,
regelmäßig lese ich Ihr Magazin.
Zum Artikel von Nils Husmann wegen eines Tempolimits auf Autobahnen in Deutschland eine Anmerkung:
Der kleine Hinweis, daß in unserem Land nur auf ca. 6.000 KM Autobahn frei gefahren werden darf, geht im Artikel unter. Deshalb wäre es unsinnig, ein allgemeines Limit einzuführen, wenn sowieso die meisten Autobahnen reglementiert sind. An den wenigen Tageszeiten an dem der Verkehrsfluß ein schnelleres Fahren erlauben würde, sollte dies weiterhin möglich sein (Autobahnen sind die sichersten Straßen, und auch aus ökologischen Gründen sind die nur in Ausnahmezeiten möglichen Geschwindigkeiten vernachläßigbar).
Ansonsten: Weiter so mit Chrismon!
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