Urban Zintel
Tik heißt in Kapstadt die Droge, die Kinder zu Monstern macht und Teenager zur Raserei bringt. Und
Eltern zur Verzweiflung. Ellen Pakkies wusste sich nicht mehr zu helfen
21.03.2011

Nachdem sie es getan hat, lässt sie sich Wasser ein für ein Bad. Es ist jetzt ganz still in der Wohnung. Kein Fluchen, kein Schreien. Zum ersten Mal seit Jahren. Sie steigt in die Wanne. Sie wäscht sich. Sie lässt sich Zeit. Keiner wird sie heute stören. Sie ist sicher.

Als sie sich angezogen hat, geht sie noch einmal in den Schuppen auf dem Hof. Ihr Sohn liegt auf dem Bett. Den Kopf ins Kissen gebohrt, die Beine angewinkelt, wie ein erschöpftes, schlafendes Kind. Die Schnur um seinen Hals ist in der Morgendämmerung kaum zu sehen.

Sie bleibt eine Weile an der Tür, wartet, ob sie etwas fühlt. Doch da ist nichts. Nur Müdigkeit. Und Erleichterung. Sie schließt die Tür. Dann geht sie zur Arbeit.

Am Morgen des 12. September 2007 tötete Ellen Pakkies, 45, Altenpflegerin aus Kapstadt, ihren Sohn. Sie erdrosselte ihn mit einer Schnur. Am selben Tag stellte sie sich der Polizei. „Ich habe meinen Sohn umgebracht“, sagte sie. „Ich konnte nicht mehr. Es tut mir leid.“ Dann brach sie in Tränen aus. Man sperrte sie in eine Zelle und ordnete Sonderbewachung an, wegen Selbstmordgefahr.

Wie kann eine Mutter ihr eigenes Kind töten? Das sie zur Welt brachte, beschützte und aufzog? Kindsmörderinnen werden fast immer von der Gesellschaft ausge­stoßen, werden zu Parias. Ellen Pakkies nicht.

Wer ihre Geschichte verstehen will, muss weg von den schicken Malls und Bars der Urlaubsmetropole. Hinein in die überfüllten Wohnblöcke und Hütten der Cape Flats. Auf die sandigen Ebenen östlich des Tafelbergs vertrieb das Apartheidregime in den 1960ern und 70ern alle nichtweißen Kapstädter. Hier wuchs auch Ellen Pakkies auf. Und hier lebt sie heute noch. In Lavender Hill, einer Township, 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.

"Wenn ich die Dealer sehe, muss ich immer an Abie denken"

Wäsche flattert im heißen Wind zwischen unverputzten Mauern, Kinder turnen auf Mülltonnen, aus den offenen Türen der Wohnungen ruft, schimpft, lacht und klappert es. Ellen Pakkies steht auf dem Parkplatz ihres zweistöckigen Wohnblocks und winkt, eine kleine, gepflegte Frau mit sanften Knopfaugen und elegant ge­knotetem Tuch. „Kommen Sie, schnell, die gucken schon.“
Am anderen Ende des Parkplatzes lehnen drei Männer an ihren Autos. Die ausgewaschenen Jeans hängen tief, die nackten Oberkörper sind tätowiert, die Sonnenbrillen verspiegelt. Auf der Wiese daneben fläzt sich eine Gruppe Teenager. „Die Druglords und ihre Kunden“, sagt Ellen Pakkies. „Wenn ich sie sehe, muss ich immer an Abie ­denken. Er sah genauso aus. Es tut mir noch immer weh.“

Ellen Pakkies’ jüngster Sohn Abie nahm Drogen, wahrscheinlich schon seit er zwölf war. Genau kann das seine Mutter nicht sagen. Woran sie sich aber noch sehr gut erinnert, ist jener brütend heiße Sommertag im Jahr 2002. Da nimmt sie in ­ihrer Wohnung zum ersten Mal diesen Geruch wahr. Als ob jemand Gummibärchen schmilzt. Ellen kennt den Geruch, vom Haus neben der Bushaltestelle. „Die kochen dort Tik“, hat ihr eine Bekannte zugeflüstert. „Das ist diese neue Droge, die die Kinder zu Monstern macht. Pass’ bloß auf, dass dein Junge die Finger davon lässt!“

Mit Abie und ihrem Mann Odneal wohnt Ellen schon damals in der Parterrewohnung in Lavender Hill. Ihre ­Geschichte ist eine typische Townshipbiografie. Vom Stiefonkel als Kind vergewaltigt, von den ersten beiden Ehemännern misshandelt, schlägt sie sich jetzt als Altenpflegerin durch. Odneal arbeitet als Parkplatzwächter. Ihre Wohnung ist eine Trutzburg gegen das raue Townshipleben: hübsche Möbel, viele Blumen, CDs mit Gospelsongs, ein sonniger Hinterhof mit Schuppen, vor dem Ellen gerne sitzt und in den Himmel schaut.

Doch jetzt ist da dieser Geruch. Ellen durchsucht die Wohnung. Im Zimmer von Abie, damals 14, findet sie eine aus einer Glühbirne gebastelte Glaspfeife. Am Pfeifen­boden kleben festgebackene Pulverreste. Tik.

Wer Tik raucht, fühlt sich wie Superman. Wer Tik raucht, will Sex

Tik ist der südafrikanische Name für Methamphetamin. Ein kristallines Pulver, das die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg als Aufputschmittel benutzte und das in den 1990ern in den USA zur Modedroge avancierte. Den südafrikanischen Markt eroberte es um die Jahrtausendwende. Aus Zutaten wie Rattengift, Batteriesäure und WC-Duftstein lässt sich Tik spottbillig herstellen. Eine Portion kostet nur 40 Rand, etwas mehr als vier Euro. Wer Tik raucht, fühlt sich wie Superman. Wer Tik raucht, muss kaum mehr schlafen. Wer Tik raucht, will Sex.

Vor allem unter den „Coloureds“, der von den Ureinwohnern, den ehemaligen malayischen Sklaven und Euro­päern abstammenden Minderheit am Kap, finden die Dealer gute Kunden. Denn die „Coloureds“ sitzen im neuen Südafrika zwischen allen Stühlen. Die Förderprogramme der Regierung richten sich fast nur an Schwarze. Die Mischlinge sind oft ebenso arm. Doch sie bleiben meist außen vor. Auch Ellen Pakkies ist eine „Coloured“.

Bald stechen 15-jährige Jungen für ein paar Rand ­Passanten nieder. Schulmädchen gehen anschaffen. Die Beschaffungskriminalität steigt zwischen 2002 und 2006 rapide an. Bis zu 250 000 Menschen, schätzen Wissenschaftler, rauchen am Kap regelmäßig Tik.

Abie streitet alles ab. Und Ellen glaubt ihm. Abie ist ihr Lieblingssohn, sie vertraut ihm. Kochen sie nicht jeden Abend zusammen? Erzählen sie sich nicht alles? Doch auf Kochen und Plaudern hat Abie bald keine Lust mehr. Er wird gereizt, schwänzt die Schule, verbarrikadiert sich in seinem Zimmer. Als Ellen sich einmal weigert, ihm Geld zu geben, schlägt Abie aus Wut ein Fenster ein.

Bald bricht er die Schule ab, lungert mit seinen Kumpels zwischen den Wohnblocks herum. Nach Hause kommt er nur noch zum Schlafen oder Essen. Als Ellen ihm kein Geld mehr gibt, verkauft Abie seine CDs. Dann seinen Fußball. Dann seine Hosen, Hemden, Schuhe. Er beginnt, seine Eltern zu beklauen. Erst nur Wechselgeld. Dann Kleider, Geschirr, Besteck, Vorräte. Als Ellen eines Morgens ins Bad kommt, sind die Leitungen aus der Wand gebrochen.

Die Droge hat eine ganze Generation im Griff. Und die Mütter müssen mit den Junkies klarkommen

Ellen und Odneal reden mit Abie, allein, gemeinsam. Sechs Mal zeigt Ellen ihren Sohn an, beantragt gerichtliche Verfügungen. Doch immer kommt er nach wenigen Tagen frei. Man könne nichts beweisen, heißt es. Und: Sie solle nicht so drängeln. Als sie endlich einen Platz in einem Rehabilitationszentrum bekommt, verschläft er den ersten Termin und fliegt aus dem Programm.
Odneal fängt an zu trinken, Freundinnen hat Ellen nicht. Ihr bleibt nur Gott. Seit ihrer Jugend ist sie tief ­gläubige Christin, beim Beten fand sie immer Trost. „Was ist los mit meinem Sohn?“, flüstert sie nachts, wenn sie wartet, dass Abie nach Hause kommt.
In den Wohnblocks und Hütten der „Coloureds“-Townships kämpfen zur gleichen Zeit Tausende von Müttern mit ihren wild gewordenen Söhnen. Tik hat eine ganze Generation im Griff. Und fast immer sind es die Mütter, die mit den Junkies klarkommen müssen, die Väter ­trinken oder sind schon lange abgehauen. Manche Frauen haben ihr Hab und Gut bei den Nachbarn deponiert, damit ihr Sohn nichts davon klaut. Manche tragen ein Messer in der Tasche, um sich zu schützen. „Schlaf mit mir“, brüllen 16-Jährige mit heruntergelassenen Hosen vor ihren Müttern. „Ich brauche Sex!“

Kaum eine Mutter traut sich, offen über solche Szenen zu sprechen. Auch aus Angst, die Aufmerksamkeit der Gangs auf sich zu ziehen. Denn die „Coloureds“-Townships rund um Kapstadt sind Gangrevier.

"Vom Staat und von der Polizei kannst du keine Hilfe erwarten"

Die Atmosphäre ist geprägt von Angst und Gewalt, und nur wenige bringen den Mut auf, dem die Stirn zu bieten. Ein paar von ihnen kann man in der St. Mary Magdalene’s Catholic Church treffen, im „Coloureds“-Township Mitchell’s Plain. Jede Woche versammeln sich in den schlichten Räumen mal fünf, mal zehn Mütter bei Keksen und Limonade und erzählen sich die neuesten Schauergeschichten ihrer Söhne. Es wird viel geweint und geflucht an diesen Abenden. Aber es wird auch viel gelacht. Denn worüber man Witze machen kann, davor hat man nicht mehr so viel Angst.

Venetia Orgill hat sich die Angst schon lange verboten. „Ich habe so viel Schreckliches erlebt“, ruft die füllige Frau mit dem Kreuz um den Hals. „Gott wird mich auch vor den Druglords bewahren!“ Neben der 53-Jährigen liegt an diesem Abend ein zerkratztes Handy, auf dem selbst jetzt noch Nachrichten ratsuchender Eltern eingehen. Die Nummer kennt in den Cape Flats fast jeder, Venetia Orgill ist bekannt dafür, bei den Behörden so lange zu drängeln, bis sie auch die abgewracktesten Tik-Junkies in Rehabilitationsprogrammen untergebracht hat. Zehn Jahre war ihr eigener Sohn Troy drogensüchtig. Beschimpfte, bestahl, misshandelte sie. 2008 schließlich brachte er sich um. Clean, doch durch das Gift psychisch krank.

Venetia ist in vielem das Gegenteil von Ellen. Eine vor Selbst- und Sendungsbewusstsein strotzende Frau, die ihrem Ärger ohne Furcht Luft macht. Von Anfang an tat sie sich mit anderen zusammen. „Wer in den Cape Flats ein tiksüchtiges Kind hat und sich nicht selbst Verbün­dete sucht, der dreht durch“, sagt sie. „Vom Staat und von der Polizei kannst du keine Hilfe erwarten. Viele Polizisten sind selbst Teil der Szene. Die nehmen uns nicht ernst.“

"Vater", betet Ellen. "Mach, dass Abie verhaftet wird"

September 2007. Für Ellen ist die Wohnung mittler­weile zum Gefängnis geworden. Abie schläft jetzt im Schuppen auf dem Hof. Nachdem er mit einer Schere auf sie losgegangen ist, hat Ellen ihn dorthin verbannt. Die Wohnung hat sie verrammelt. Ihre letzten Kleider trägt sie in einem Koffer bei sich. Denn irgendwie findet Abie immer einen Weg ins Haus. Manchmal schlängelt er seinen dürren Körper einfach durchs Fenstergitter. Nachts brüllt er im Hof wie ein Tier: „Ich werde euch alle töten!“

Ellen schläft kaum mehr. Immer wieder kommen Szenen aus ihrer Kindheit hoch: die Mutter, die betrunken durchs Zimmer tobt. Ihre ersten beiden Männer, die sie verprügeln. „Vater“, betet sie. „Bitte mach’, dass Abie irgendetwas anstellt und verhaftet wird!“ Wenn Ellen heute an diese Tage zurückdenkt, kämpft sie noch immer mit den Tränen. „Das Schlimmste war, dass ich Abie immer noch liebte“, sagt sie. „Ich wollte, dass er sich bei mir geborgen und verstanden fühlt. Meiner eigenen Mutter war es ja immer völlig egal gewesen, wie es mir ging. Selbst als mein Stiefonkel diese schlimmen Sachen mit mir machte. Ich wollte das besser machen: Abie sollte mit mir über alles reden können.“

War er denn überhaupt ansprechbar? „Manchmal ja. Er saß dann auf dem Hof, ich stand in der Wohnung, hinter der Gittertür, weil ich Angst hatte. Dann haben wir uns unterhalten.“ Worüber? „Wie es ihm geht, ob er nicht doch eine Therapie machen will. Meistens hat er aber gleich angefangen zu schimpfen: Ich würde ihn nicht lieben. Weil ich ihm kein Geld gebe.“

Später, vor Gericht, vergleicht der psychologische Gutachter von Ellen ihr Leben in dieser Zeit mit einer Achterbahnfahrt zwischen zwei extremen Gefühlswelten: Auf der einen Seite das Missbrauchsopfer, das sich nach Ruhe sehnt. Auf der anderen die Mutter, die ihren Sohn liebt. „Diese Welten drifteten immer weiter auseinander. Der Druck auf Ellen wuchs immer mehr.“

Warum sie die Schnur mitnimmt, kann sie später nicht mehr sagen

Am 12. September 2007 hielt Ellen dem Druck nicht mehr stand. Tags zuvor hat Abie mal wieder die Wohnung verwüstet. Nachts tut sie kein Auge zu. Noch einmal will sie mit ihm reden. Ihn bitten, mit den Drogen aufzuhören. Als Odneal am nächsten Morgen zur Arbeit aufgebrochen ist, geht sie in den Schuppen. Warum sie die Schnur mitnimmt, im Vorbeigehen, kann sie später nicht mehr sagen.

Abie liegt auf dem Bett und schläft. Wie in Trance verknotet Ellen die Schnur zu einer Schlinge. Die legt sie Abie um den Hals. Das andere Ende wickelt sie um den Bettpfosten. Sie zieht an der Schnur. Ganz leicht zunächst. Abie wacht auf, starrt sie an.

„Sprich mit mir, Abie!“, sagt Ellen. „Wirst du endlich auf mich hören?“ – „Ja, ja, ich werde auf dich hören!“ Den Satz hat Ellen schon oft gehört. Von Abie, ihren Exmännern, ihrer Mutter. Sie weiß: Er bedeutet nichts. Absolut nichts. Sie zieht fester. Abie rudert mit den Armen. Er bekommt eine Latte zu fassen, die vor dem Bett liegt, schlägt damit nach Ellen.

Abie ist stark, ein Mann fast. Und er ist auf Tik. Doch Ellen kann ihr Körpergewicht einsetzen, wenn sie an der Schnur zieht. Irgendwann lässt Abie die Latte fallen. Und Ellen zieht weiter. Und zieht. Und zieht.

Bis endlich Stille ist. Ellen schließt die Augen: „Vater, vergib mir“, sagt sie. Dann lässt sie die Schnur los.

Ellens Tat schockiert die Provinz. An Morde ist man hier gewohnt – doch eine Mutter, die ihren Sohn umbringt? Als bekannt wird, dass Abie tiksüchtig war, ändert sich die Stimmung. Vor allem in den Townships. Die ­Mutter aus Lavender Hill wird plötzlich zum Symbol für die Verzweiflung Tausender anderer Mütter. Die Menschen spenden Geld für ihre Kaution. Ein bekannter Anwalt erklärt sich bereit, sie kostenlos zu verteidigen.

Der Prozess dauert über ein Jahr und wird zur erschütternden Innenschau einer Stadt, die gern vergisst, dass sich für viele ihrer Bürger auch nach der Apartheid noch wenig geändert hat. Auch Venetia Orgill wird als Zeugin geladen, im vollgepackten Gerichtssaal berich­-tet sie vom Kampf der Mütter von Mitchell’s Plain. Als Ellen selbst aussagt, kämpft sogar die Staatsanwältin mit den Tränen. Vor dem Gericht halten Demonstranten Schilder in die Höhe: „Ellen Pakkies ist ein Opfer, keine Verbre­cherin!“
Sah sie sich damals genauso? Im Wohnzimmer nippt Ellen umständlich am Tee, bevor sie antwortet. Dann sagt sie leise: „Ich konnte einfach nicht mehr. Ich war so müde. Ich hatte solche Angst. Während des Prozesses saß ich in meiner Wohnung und dachte: Warum haben mir diese Leute, die jetzt demonstrieren, nicht früher zugehört? Warum musste ich erst tun, was ich getan habe? Abie war mein Baby. Jetzt war er tot. Und ich war schuld.“

"Abie, was willst du!", ruft sie ins Dunkle. Doch keiner antwortet

Auf den Hof hinter der Wohnung traut sie sich während des Prozesses kein einziges Mal. Zu groß ist der Schmerz. Zu tief sitzt die Reue. Nachts hört sie dort Schritte. „Abie, was willst du?“, ruft sie dann ins Dunkel. Doch keiner antwortet. Ellen bereitet sich darauf vor, den Rest ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen. „Ich hatte getötet. Ich war für jede Strafe bereit.“
Doch Ellen kommt nicht ins Gefängnis. Sie wird zu drei Jahren Bewährung und 280 Stunden gemeinnütziger ­Arbeit verurteilt. „Das Verbrechen muss im Kontext ihrer Verzweiflung gesehen werden“, sagt die Richterin. Und zu Ellen: „Es ist jetzt Ihre Pflicht, rauszugehen und die ­Menschen aufzuklären. Die Botschaft muss sein: Mord ist keine Antwort!“

Und Ellen geht raus. Spricht in Kirchen, Schulen, Gemeindehäusern in ganz Südafrika. Von Abie, sich selbst, ihrem Kampf. Am Anfang schüttelt die Erinnerung sie wie ein böser Geist, sie zittert, schluchzt, muss aufhören. Auch heute weint sie meist, wenn sie von Abie erzählt. „Es tut aber nicht mehr weh. Das Reden heilt mich.“

Und es scheint, als würde es auch denen helfen, die ihr zuhören. Die Hallen und Kirchen, in denen Ellen spricht, sind immer voll besetzt. Die Menschen hängen an ihren Lippen. Nicken wissend, wenn sie von leer geräumten Kleiderschränken und angstvollen Nächten berichtet. Und klatschen, wenn sie Polizei und Politiker auffordert, die Mütter ernst zu nehmen. „Für Mütter ist es heute schon etwas leichter geworden, ihre drogensüchtigen ­Söhne ins Gefängnis zu bringen“, sagt Ellen. „Es gibt auch mehr ambulante Kliniken. ‚Ihr müsst rausgehen und so lange drängeln, bis man euch hilft‘, sage ich bei meinen Vorträgen immer. ‚Rettet eure Kinder!‘“

'Es ist später Nachmittag geworden. Die Mauer des Hinterhofs wirft lange Schatten, als Ellen zum Schuppen geht. Sie öffnet die Tür. Da steht das Bett, auf dem Abie schlief, da hängen die Gardinen, durch die er blickte. Vor der Tür heult der Sommerwind. Im Nachbarhof zankt sich ein Paar, Glas scheppert. Im Schuppen ist es ruhig. „Wenn ich mich nach ihm sehne, gehe ich hierher“, sagt Ellen und zieht die Tür langsam wieder zu. „Jeden Tag.“

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unglaublich!

Wahnsinnig bewegend! Mich hätte aber auch noch brennend interessiert, wie sie das ganze mit Gott ausmacht. Schließlich muss sie mit ihrer Tat leben und auch vor Gott und ihrem Gewissen bestehen. Das ist sicher nicht leicht und ein langer Kampf. Auch wenn diese Schuld zum Segen für viele wurde. Hat sie in diesem Kampf schon Frieden gefunden? Und wenn ja, wie? Gib es dazu Aussagen von ihr? LG, Rolf
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eine sehr ergreifende und traurige Geschichte. Und wütend bin ich, selbst Mutter.
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Eigentlich habe ich chrismon all die jahre nie richtig gelesen. Nach dieser Geschichte weiß ich, ich sollte es künftig aber tun. Wirklich ganz wunderbar und (leider) sehr aufwühlend aufgeschrieben, Frau Maroldt.