Der Anruf kam am Sonntagmorgen um 9.15 Uhr: „Es sind zwei Babys gestorben, ein drittes schwebt in Lebensgefahr. Und wir haben den Verdacht, dass es an einer verkeimten Infusionslösung liegt.“ Mein erster Gedanke: „Das darf nicht wahr sein!“
August 2010, es waren meine letzten Arbeitstage als Medizinischer Vorstand der Universitätsmedizin in Mainz, ein sehr großes Unternehmen mit 7200 Mitarbeitern. Ich hatte diese Position drei Jahre lang inne, und es waren sehr gute Jahre. Wir haben einen großen Schuldenberg abgebaut, wir haben richtig was erreicht. Und dann das! Auf der letzten Strecke!
Es gingen mir in Sekunden ganz viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Wie kann das passiert sein, was können wir tun? Muss ich zurücktreten? Aber, zugegeben, auch so banale wie: Ich werde heute sicher nicht mit meinem Sohn zum Heimspiel von Mainz 05 gegen Stuttgart gehen, auch wenn ich ihm das lange versprochen habe.
So etwas Entsetzliches war noch nie vorgekommen
Ich habe sofort einen Krisenstab einberufen, eine gute Stunde später saßen wir mit 15 Leuten zusammen, Apotheke, Kinderklinikchef, beteiligte Ärzte, Hygiene, aber auch Justiziar und Presseabteilung. Sehr schnell war klar: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Fehler in unserem Haus passiert war, war groß. Sehr kleine und kranke Kinder bekommen keine fertigen Infusionslösungen, für jedes Baby wird die Lösung von Hand gemischt, für jedes Kind einzeln. Das wurde an diesem Freitag für elf Kinder gemacht, die alle aufgrund schwerer Erkrankungen oder weil sie zu früh geboren wurden, auf der Kinderintensivstation behandelt wurden.
Und von denen waren am Samstag zwei gestorben. Beide waren ganz schwer krank, eines hatte nur 500 Gramm gewogen, vielleicht wäre es auch so gestorben. Am Samstag wurde die zwölfte Infusion im Labor untersucht, das machen wir routinemäßig, wir nennen es Rückstellung. Und in dieser zwölften Infusion waren Keime gewachsen. Für uns hieß das: Elf Babys könnten an einer Infusion sterben! Elf Babys – so etwas Entsetzliches war auf der Welt fast noch nie vorgekommen.
Um 19 Uhr waren wir schon die Topmeldung
Man muss dann das Richtige und Wichtige tun. Erstens: verhindern, dass weitere Kinder sterben. Also: Ärzte und Schwestern aus dem Frei zurückholen, damit für jedes Kind ein Arzt und eine Krankenschwester da ist. Zweitens: Hersteller informieren, damit nicht noch mehr Kinder gefährdet werden. Die Firmen haben wir am Sonntag rausgeklingelt, auch mit Hilfe der Polizei. Und drittens haben wir ganz schnell die Eltern informiert, die der toten und die der gefährdeten Kinder. Das war ganz schwer. Aber wir wollten, dass sie es als Erste erfahren, bevor die Medien berichten. Die Ärzte haben selber mit jedem einzelnen Elternpaar gesprochen.
Um 13 Uhr habe ich selber den Staatsanwalt angerufen. Ich habe ihm dann empfohlen, seinen Chef anzurufen, mir war ja klar, das wird was Größeres. Um 15 Uhr kamen dann die Mannschaftswagen der Polizei der Abteilung Kapitalverbrechen. Um 17 Uhr haben wir die Pressemeldung rausgeschickt, um 18 Uhr die Pressekonferenz gehalten und um 19 Uhr waren wir schon die Topmeldung in allen Nachrichten. Und parallel dazu immer die Recherche: Was ist passiert, woran lag es?
Unter den Teppich kehren? Das wäre falsch gewesen
Es war schon dramatisch. Ganz wichtig war es deshalb auch, den beteiligten Mitarbeitern gleich psychologische und seelsorgerliche Unterstützung anzubieten. Natürlich gab es in dem Krisenstab eine Diskussion darüber, ob wir alle so offen informieren sollen. Ich habe das aber entschieden, ich bin der Verantwortliche. Ich habe gesagt: Nein, wir können das nicht noch ein, zwei Tage rauszögern, das ist verkehrt. Wir müssen das jetzt den Eltern sagen, die haben ein Recht darauf. Und dann wird es Kreise ziehen.
Man hätte das wohl unter den Teppich kehren können. Aber das wäre grundfalsch gewesen. Überall, wo Menschen arbeiten, gibt es Fehler, und die gibt es natürlich auch in Mainz und auch in dieser Klinik. Wenn ein Fehler nicht aufgedeckt wird, tappen andere in dieselbe Falle. Dann entsteht eine Abwärtsspirale der schlechten Qualität. Ich kann mich als Chef nicht hinstellen und beim ersten Fehler, der dieses Unternehmen in seinen Grundfesten betrifft, sagen: Das kehren wir jetzt unter den Teppich. Wer lügt, muss außerdem ein sehr gutes Gedächtnis haben. Ich bin gut damit gefahren, zu jeder Minute alles zu sagen, was ich wusste. Meinen ersten Berufsabschluss habe ich als Querflötist. Beim Instrument hört man sofort, wenn jemand einen falschen Ton spielt. Das will ich natürlich nicht. So halte ich es auch im richtigen Leben.
Mein evangelisches Wahrheitsverständnis
Und dann gibt es noch etwas, mein evangelisches Wahrheitsverständnis. Ich finde es nicht richtig zu lügen. Deine Antworten seien ja, ja und nein, nein. Und nicht irgendwie dazwischen. Dabei würde ich mich nicht wohlfühlen. Die Wahrheit hat auch etwas Befreiendes. Ich denke, die Wahrheit zu sagen, hat viele Vorteile. Es gibt nur ein Problem: Man muss dafür relativ mutig sein.
Ich stand am Sonntag vor 20, am Montag vor 60 Journalisten, ich wusste, meine Worte werden in zwei Millionen Haushalte übertragen. Ich habe nicht gesagt: Wir sind schuld. Ich habe gesagt: Es ist etwas Furchtbares passiert, die Kinder waren in unserer Obhut. Sie sind gestorben, und möglicherweise durch unser Tun. Wir ziehen alle möglichen Ursachen in Betracht. Dann bin ich gefragt worden: Herr Pfeiffer, was ist die wahrscheinlichste Ursache? Da habe ich mit der Wahrheit geantwortet: Leider ist das Wahrscheinlichste, dass es da passiert, wo händisch gearbeitet wird. Also hier im Krankenhaus. Wir kehren erst vor unserer Tür und zeigen nicht gleich mit dem Finger auf andere. Sie müssen wissen: Es kommt sehr, sehr selten vor, vielleicht weniger als eins zu 50 Millionen, dass eine Infusion vom Hersteller verkeimt ankommt. Das ist ein maschineller Vorgang, da kommt keine Hand dran. Demgegenüber war es extrem viel wahrscheinlicher, dass es beim Mischen passiert, dort, wo Hände im Spiel sind. Also bei uns.
Ich bin mit der Wahrheit immer gut gefahren
Klar hat mir das wehgetan, als dann kolportiert wurde: „Klinikleiter sieht Schuld bei sich.“ Denn das stimmte ja nicht. Und ich kam kurz ins Zweifeln, ob mein Handeln richtig war. Aber nicht lange. Ich bin mit der Wahrheit immer gut gefahren. Ingeborg Bachmann hat in einem Vortrag in den 50er Jahren einmal gesagt: „Die Wahrheit ist zumutbar.“ Ich meine: zumutbar für den, der sie sagen muss. Und zumutbar für den, der sie hören muss. Aber dieser eine Moment, da hat es mich schon heiß und kalt durchflutet, dieser Moment, als ich wusste: Sie werden jetzt alle sagen, na, dann wird es wohl auch hier in der Klinik passiert sein. Das war schrecklich. Und manche Patienten haben auch überreagiert und sich gefragt, ob ich persönlich schuld bin. Natürlich hat das wehgetan. Aber, entschuldigen Sie, das sind Befindlichkeitsstörungen! Wir reden hier auf der anderen Seite von drei toten Kindern.
Und was wäre die Alternative gewesen? Ich hätte natürlich 60 Journalisten sagen können, es ist alles gleich wahrscheinlich, wir wissen gar nichts. Für diesen Moment oder für einen Tag wäre das für mich einfacher gewesen, da hätte ich gewonnen. Aber nur kurz. Denn die „Schwarmintelligenz“ von 60 recherchierenden Journalisten ist meiner doch weit überlegen. Da hätte einer einen befreundeten Klinikhygieniker angerufen, der Nächste im Internet recherchiert, und es hätte wie mit Backsteinen auf uns zurückgeregnet.
Es reicht nicht, Fehler nur zuzugeben
Ich weiß, dass wir uns für den Medizinbetrieb atypisch verhalten haben. Ich habe in meiner Laufbahn auch andere Erfahrungen gemacht. Als Famulant habe ich in einem chirurgischen Krankenhaus gesehen, wie bei einer Operation ein Bohrer unbemerkt unsteril wurde, weil man durch ein Tuch durchgestochen hatte. Ich sagte: „Entschuldigung, hier ist gerade ein Bohrer unsteril geworden.“ Oje, die hätten mich am liebsten rausgeworfen. Mir wurde bedeutet, mit so vorwitzigem Gehabe würde man hier keine Stelle bekommen. Ich habe das Interesse an dieser Stelle dann auch schnell verloren.
Es reicht natürlich nicht, Fehler nur zuzugeben, gleichzeitig muss man natürlich alles tun, um Fehler zu vermeiden. Bei meiner Ausbildung in England gab es ein dickes Buch, was man machen soll und was nicht. Und der letzte Satz in diesem Buch lautete: „If in doubt, do the right thing.“ Klingt blöd, aber es ist doch so: Oft weiß man nämlich ganz genau, was richtig ist. Aber man ist zu bequem oder hat Angst und macht es gerade nicht. Aber ich als Chef habe Angst vor dem Mitarbeiter, der zu mir sagt, er mache keine Fehler. Der ist brandgefährlich! Ich habe Respekt vor dem, der sagt: Ich glaube, da habe ich was falsch gemacht. Können wir mal drüber reden?
Menschen sind bereit, zu verzeihen
Ich habe als Arzt meinen Patienten immer die Wahrheit zugemutet. Und ich habe gelernt: Menschen, egal welcher Glaubensrichtung, sind in erstaunlichem Maße bereit zu verzeihen, wenn man sie nicht betrügt. Man kann Patienten durchaus sagen: Es gibt ein Problem, aber wir helfen Ihnen da jetzt auch wieder heraus. Klar sagen viele, wir haben eine Amerikanisierung der Medizin, der Jurist sitzt schon unsichtbar mit am Bett. Das ist auch ein Problem, im schlimmsten Fall können Ärzte ihre Haftpflichtversicherung verlieren, wenn sie schriftlich ihre Schuld anerkennen. Aber zwischen „Ich habe alles falsch gemacht“ und „Es tut mir leid“ ist ein großer Raum.
Ich hatte wenige Tage vor unserem Katastrophenwochenende eine Diskussion im Freundeskreis über die Love Parade in Duisburg. Wir alle fanden es unsäglich, wie man sich dort gegenseitig die Schuld zuschiebt. Nur die zwei Juristen am Tisch sagten: Ist doch klar, bloß nichts zugeben! Man sieht das doch bei fast allen großen Katastrophen. Meist stellen sich die Verantwortlichen hin und sagen: Es ist etwas Furchtbares passiert, aber wir waren es jedenfalls nicht, den Rest regeln sie über Anwälte. Das nutzt nichts! Sie brauchen in der Medizin eine schnelle Lösung, um weiterarbeiten zu können und Gefahren zukünftig zu vermeiden. Genauso wichtig ist eine schnelle Aufklärung für die Menschen, die das Geschehen seelisch verarbeiten müssen.
Wir sind gestärkt aus der Krise hervorgegangen
Die juristischen Klärungen dauern dagegen oft viele Jahre. Bei der Concorde-Katastrophe hat es sogar zehn Jahre gedauert! Um das zu vermeiden, haben wir uns an die Spitze der Aufklärung gesetzt und damit auch die Geschwindigkeit bestimmt, wie beim Radrennen. Wenn Sie nicht wollen, dass Sie einer links und rechts überholt, müssen Sie sich an die Spitze setzen. Wir waren die Ersten, die offen und ehrlich die schlimme Information herausgegeben haben. Darum ist uns später auch die entlastende Information – wir waren es doch nicht! – geglaubt worden. Denn es stellte sich dann zum Glück heraus: eine Flasche war schadhaft, sie enthielt Keime und Giftstoffe, bevor sie hier angeliefert worden war. Die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten, die war es am Schluss.
Aber auch wenn sich später herausgestellt hätte, dass wirklich der Fehler bei uns passiert wäre, auch dann hätten wir das Buch schließen können für alle Eltern, für alle Mitarbeiter. Wir hätten sagen können: Es ist etwas Furchtbares passiert, aber wir wissen jetzt, woran es gelegen hat. Wir stellen den Fehler ab, wir machen einen „Reset“. Wir können morgen wieder weitermachen. Hätten wir uns verhalten wie die Verantwortlichen in Duisburg, hätten die Eltern hier im Krankenhaus doch das Vertrauen verloren, ihre Kinder genommen und wären gegangen. So hat kein Einziger die Klinik verlassen. Ich glaube, das war unserem ernsthaften Bemühen um die Wahrheit geschuldet. Als alles vorbei war, haben wir eine Andacht gehalten. Viele Angehörige waren da, aber noch mehr Mitarbeiter. Ich glaube, wir sind gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen.
Ein erhellender Beitrag, ein
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Danke!
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Gestärkt aus der Krise - Babies tot
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So geht es auch....
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