Anna Scheidemann
Ein Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern zielt auch auf die Persönlichkeit
Es kann vielen passieren: Unter dem Druck der Umstände verändern wir uns und entfernen uns zu sehr von unserem wirklichen Ich. Wir verändern uns, oft zum Schlechteren. Es ist jedoch nie zu spät, zu sich selbst zurückzukehren.
privat
25.07.2023

Vor dem Großen Krieg in der Ukraine konnte ich die Frage, wer ich bin, genau beantworten. Meine Selbstidentifikation war stark und klar: Ich bin eine Autorin, die aktiv (täglich) ihre Seite in sozialen Netzwerken pflegt und selbstbewusst ihre Meinung und Forschung im Bereich der Beziehungen zwischen Menschen (einschließlich verschiedener Nationalitäten), Toleranz, Selbsterkenntnis und der Suche nach dem eigenen Platz auf diesem Planeten (Thema Auswanderung) teilt.

Ich wusste genau, wer meine Zielgruppe war und wie ich mit ihnen spreche. Ich sprach gerne in der Öffentlichkeit. Ich wusste, wie ich Vorträge organisiere; wie man einen vollen Saal versammelt, worauf man achten muss, worüber man sich einigen kann und worüber nicht. Meine Stimme klang selbstbewusst, offen, schnell. Ich konnte drei Stunden lang ununterbrochen sprechen und es schaffen, Witze in meine Rede einzubauen, wenn ich einen Aufmerksamkeitsverlust im Publikum bemerkte.

Sehr oft erhielt ich Nachrichten und Kommentare von meinen Lesern: mit einer Frage, mit einem Vorschlag, Dankbarkeit oder umgekehrt Kritik/Bemerkung. Für mich war das alles ein Zeichen dafür, dass ich auf dem richtigen Weg war. Deswegen war ich sehr selbstbewusst. Ich traf Entscheidungen schnell, akzeptierte keine unangenehmen Bedingungen und schickte diejenigen, die mich nicht schätzten, sofort zum Teufel.

Alles in meinem Leben war klar: Wo ich Lebensmittel kaufe, was ich koche, wann ich ins Bett gehe und aufwache, nach welchem Zeitplan ich meine Hausärzte aufsuche, wie ich mein Haus dekoriere und wie ich meine Finanzen, Wochenenden und Urlaube plane. So kannte ich mich selbst und so kannten mich die Leute. Und plötzlich dieser Anruf meiner Mutter um fünf Uhr morgens am 24. Februar 2022 mit den Worten „Der Krieg hat begonnen.“

Sei einfach ein wenig geduldig...

Ich bin nach Deutschland zurückgekehrt, weil meine Schwester hier lebt und ich auch schon vor der Pandemie fast fünf Jahre hier gelebt habe (und daher Deutsch spreche). In den ersten zwei oder drei Monaten stand ich unter Schock und aus dieser Zeit erinnere ich mich nur an völlige Verwirrung, Tränen und Wutanfälle. Nachdem der Schock vorüber war, wurde mir klar, dass ich irgendwie weiterleben will und muss.

Und das hieß: Unter den Bedingungen der Wohnungskrise in Deutschland eine Wohnung finden, mit geringen Deutschkenntnissen einen Job finden und bürokratische Probleme (Krankenversicherung, Bankwesen, Gesundheit) lösen. Ich ergab mich der Realität und akzeptierte vieles, was ich früher nie angenommen hätte. Ich erinnere mich, wie ich mich auf eine Parkbank setzte, die Augen schloss und mir sagte: „Tamriko, das wird nicht lange dauern. Später wird es noch mehr Möglichkeiten und Optionen geben. Allerdings herrscht derzeit Krieg in der Ukraine, also musst Du etwas Geduld haben.“ Damit veränderte ich mich.

Warum klingt meine Stimme leiser?

Erstens habe ich aufgehört, Schriftstellerin zu sein. Ein neues Buch? Wie? Und worüber? Ich stornierte alle Pläne, im Geist und real. Dann gab es auch keine Auftritte in der Öffentlichkeit mehr, hier kennt mich nie so viele Leute. Ich hatte Glück, eine Unterkunft zu finden, diese war jedoch möbliert und ich hatte kaum Einfluss darauf, wie sie aussieht. Meine Stimme begann leiser zu werden. Überhaupt erhob ich sie viel seltener. Erstens waren mir meine Fehler in der deutschen Sprache sehr peinlich, und zweitens glaubte ich, dass es nicht an der Zeit sei, über mich und meine Situation laut zu reden. 

Alles in meinem Leben war verschwommen: Wann ich ins Bett gehe und wann ich aufwache, wo ich meine Lebensmittel einkaufe; wer meine Zielgruppe in den sozialen Netzwerken ist und wie ich als Zwangsmigrantin etwas planen kann.

Ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr ich mich verändert habe. Bis ein guter deutscher Freund von mir sagte, ich solle doch bitte stark und charismatisch sein. Da realisierte ich, dass ich nicht mehr die war, die ich eigentlich bin: entschlossen, stark, kämpferisch. Ich hatte mich aufgrund der Lebensumstände nur dazu gezwungen, „geduldig zu sein“, und dann habe ich nach und nach fast vergessen, wer ich wirklich bin.

Aber nein!

Das ist das Ziel jeder militärischen Aggression: nicht nur Menschen zu töten, sondern sie auch von innen heraus zu zerstören, sie ihr „Ich“ vergessen zu lassen; sie zu zwingen, auf ihre persönlichen Ambitionen und Träume zu verzichten und ein Unbehagen zu ertragen, das allmählich zur Gewohnheit wird. Aber ich möchte nicht zulassen, dass dieser Krieg meine Identität zerstört. Ich schreibe hier an dieser Stelle über mich und andere und möchte uns alle damit bestärken. Ich will mich nicht zerstören lassen. Ich möchte so bleiben, wie ich wirklich bin. Ich möchte ich selbst sein. Und ich war mir meiner Entscheidung noch nie so sicher.

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So wie Gott keine Persönlichkeit ist, sondern die Vernunft, das Verantwortungsbewusstsein und die Kraft des Geistes / des Zentralbewusstseins der Schöpfung, so sollte Mensch sein / das WIR gestalten.

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"Es ist jedoch nie zu spät, zu sich selbst zurückzukehren."

Doch, es ist vorhergesehen zu spät, wenn das Selbst am Ende der Tage, ohne die der Vernunftbegabung ebenbildlich-entsprechende Überwindung, zum Ursprung / zur Seele des gestalterischen Geistes zurückkehrt.

Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum