Transitraum Aufmacher - Friedenstaube in Frnakfurt
Tamriko Sholi
Ich bin nur der gewöhnlichste Mensch
Bis vor kurzem hatte ich das gleiche Leben wie ihr alle. Allerdings war ich zu naiv und selbstbewusst und dachte, dass nichts mein Leben radikal verändern könnte. Dann überfiel Putin meine Heimat, die Ukraine
Lena Uphoff
20.02.2023

Mein Name ist Tamriko. Ich bin Schriftstellerin und Journalistin und hatte das gleiche Leben wie ihr alle.

Von 2014 bis 2018 lebte ich in Deutschland. Ich kaufte Croissants beim Bäcker, habe mit Freunden auf Weinfesten abgehangen, mich geärgert, wenn meine S-Bahn zu spät kam. Ich plante Arzttermine, schmückte meinen Balkon mit Blumen zu Ostern und quatschte mit zufällig neben mir sitzenden Leuten in einem Café. Es schien, dass mir nichts Schreckliches passieren könne.

Ich habe in Sprachkursen Deutsch gelernt und dort viel mit Flüchtlingen aus dem Osten gesprochen. Ich war mir sicher, dass ich sie perfekt verstand und wusste, was sie brauchten. Ich fühlte mich ... Seien wir ehrlich: Ich fühlte mich gebildeter, erfolgreicher, weiser, vernünftiger, Werte und Prioritäten richtig einschätzend. Weil ich aus der Mitte Europas stamme.

Ich begann, mich für Filme, Bücher, Artikel über Flüchtlinge und Kriege zu interessieren. Ich glaubte, ihre Situation zu verstehen und mich einzufühlen. Ich sah mich als sehr tolerant und wollte helfen, aber gleichzeitig würde mir das nie (!) passieren. Denn mein Leben bestand aus Fotoshootings, Interviews und Autogrammstunden, Einkäufen per Apple-Watch, der Entwicklung meines Auftritts in den sozialen Netzwerken. Ich trank Cappuccino in gemütlichen Cafés, während ich online nach Sesselkissen shoppte. Ich fühlte mich sicher.

Von 2019 bis 2021 war ich wieder in der Ukraine. Die Welt befand sich ab 2020 im Lockdown und es war die perfekte Zeit für mich, mein neues Buch fertigzustellen. Ich kehrte nach Kiew zurück und vertiefte mich in das Manuskript. Mein Plan war, ein Buch zu veröffentlichen, eine Literaturtournee in mehrere Städte zu machen und wieder für einige Zeit nach Deutschland zurückzukehren. Mein Buch sollte im März 2022 in Druck gehen, aber am 24. Februar um fünf Uhr morgens wurde ich durch einen Anruf meiner Mutter geweckt. Und ich hörte diese Worte, die ich nie vergessen werde: "Der Krieg hat begonnen."

Völlig „nackt“ wieder in Deutschland

Zum Nachdenken und Sammeln blieb keine Zeit. Ich ließ alle meine Sachen in meiner Mietwohnung und kam nach Deutschland. In Frankfurt traf ich meine Schwester, die schon lange hier lebt. Doch dieses Mal, in der Stadt, die ich so gut kannte, kam alles ganz anders.

Da sind erst mal meine „besten“ Freunde aus Deutschland. Sie sind verschwunden. Sie boten nicht nur nie ihre Hilfe an. Sie fragten nicht einmal, wie es mir ging. Ich habe mich fünf Tage unter Beschuss nach Deutschland durchgekämpft und habe die Grenze zu Fuß überquert. Aber sie fragten nicht mal, ob ich noch lebe. Ich war schockiert.

Gestern wusste ich, wo ich wohne und was ich mache, aber heute bieten mir meine geflüchteten Freunde aus der Sprachschule an, bei ihnen zu bleiben, und unbekannte Deutsche spenden mir ihre Kleidung und Hygieneartikel. Über Nacht verlor ich absolut alles: Wohnung, Arbeit, Status, meinen gewohnten Freundeskreis, Pläne, Träume ... Ohne Dokumente, ohne Geld und ohne Vorbereitung musste ich superschnell eine Wohnung finden, einen Job, alles neu beginnen.

Von jetzt auf null war ich einer von Millionen Flüchtlingen, völlig „nackt“ wieder in Deutschland.

Verlust der Identität

Flüchtling ist nicht Auswanderung. Der größte Unterschied besteht darin, dass du im Flüchtlingsfall nicht nur Hab und Gut (zum Beispiel Geld), sondern auch dich selbst verlierst. Flüchtling sein ist ein völliger Verlust der Selbstidentifikation. Wer bin ich jetzt? Kann ich weiterhin als Journalistin und Autorin in einer Nichtmuttersprache arbeiten? Werde ich hier wenigstens 30 Prozent dessen erreichen können, was ich in meinem Heimatland hatte? Wer bin ich für all diese Menschen? Werden sie mich respektieren? Werde ich ein neues soziales Umfeld finden? Welche Nische werde ich hier ohne Vorbereitung und Plan besetzen?

Ich war in einer Stadt, die ich gut kannte, aber ich konnte nicht wie früher einfach in mein Lieblingscafé oder meine Lieblingsbäckerei gehen – dafür hatte ich kein Geld. Ebenso kein Geld, um meine alten Bekannten im Restaurant zu treffen. Und ich wollte es mir nicht einmal gönnen, zu Hause einen Film anzusehen oder Musik zu hören, weil Menschen in meinem Land starben und ich das Gefühl hatte, kein Recht auf Ruhe zu haben.

Krank werden ging nicht, ich hatte keine Versicherung! Ich war völlig abhängig von der Situation und den Menschen. Ich fühlte mich gedemütigt. Als hätte jemand mein Selbstwertgefühl in den Müll geworfen.

Meine jetzige Position in Deutschland war auch insofern anders, als ich keinen Plan „B“ mehr hatte. Ich konnte nicht mehr einfach jeden Moment nach Hause fahren, zum Beispiel für ein paar Tage, um mich auszuruhen. Ich hatte nicht mehr die Option, dass etwas nicht funktionieren würde. Früher hatte ich Angst, auf Deutsch zu sprechen, weil ich viele Fehler gemacht habe.

Auf der anderen Seite des Vorhangs

Wenige Wochen nach meiner Ankunft in Deutschland wurde mir klar, dass ich nur dann ein neues Leben beginnen könnte, wenn ich diese Zweifel aufgab und jede Gelegenheit ergriff. Wenn ich so entschlossen wie möglich werde und mich weiterhin liebe – auch wenn ich jetzt Hotels putze, anstatt Journalistin zu sein.

Ja, mein Leben in Deutschland ist dieses Mal ganz anders. Als ob ich früher Zuschauerin im Theater war und jetzt hinter den Kulissen stünde. Ich landete auf der anderen Seite des Vorhangs und das erlaubte mir, Dinge zu sehen und zu verstehen, die ich vorher nicht bemerkt hatte.

Zum Beispiel habe ich verstanden, dass ich zu arrogant war, zu selbstbewusst und ... naiv. Ich dachte, dass ich das Leben und die Menschen kennen, dass ich auf Schwierigkeiten vorbereitet sein würde und dass mir Krieg nicht passieren könnte. Aber ich bin einfach nur der gewöhnlichste Mensch. Mir kann absolut alles passieren, auch das, was mir fern und unwirklich erscheint. Und ich weiß überhaupt nichts über die Härten im Leben anderer Menschen. Und es spielt keine Rolle, welcher Nationalität sie angehören.

Ja, ich habe alles verloren, was ich hatte: Status, Job, Geld, Wohnung. Aber ich habe immer noch ein Leben. Am Leben zu sein, ist immer eine Chance.

Ein Jahr ist vergangen. Ich habe einen Job, eine Wohnung und neue Freunde gefunden. Ich habe wieder meinen Balkon mit Blumen geschmückt. Ich trinke wieder Cappuccino in einem Café und kaufe Croissants in einer Bäckerei. Aber der Unterschied ist, dass ich jetzt wirklich mit jeder Zelle meines Körpers dafür dankbar bin. Für jede Minute meines Lebens. Denn mir kann alles passieren.

Anmerkung der Redaktion:
Hört auch den Podcast von yeet, dem evangelischen Contentnetzwerk, mit Tamriko Sholi und Julia Gerlach von Amal Frankfurt. Hier spricht Tamriko über ihre Arbeit in der Redaktion von "Amal, Frankfurt!" und darüber, welche Informationen ihre Landsleute in Deutschland interessieren. Außerdem erzählt sie, was den Menschen in der Ukraine hilft.

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Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum