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Liebe Anne,
gerne wäre ich schon so weit wie du, aber mein Koffer befindet sich in einem anhaltenden Zustand halben Gepacktseins, der nicht besser dadurch wird, dass ich immer wieder eine Katze zwischen Hosen und Pullovern herausholen muss. Du hast recht, wir reisen mit ordentlich Gepäck – aber wir lassen auch einiges zurück. In meinem Fall einen Mann und zwei Katzen. Tut mir leid, dass du ihretwegen nicht einfach auch in meine Wohnung ziehen kannst.
Dafür wohnst du nun so zentral in Meißen, wie es nur geht. In fünf Minuten stehst du vor dem Meißner Dom und der Albrechtsburg, dem ältesten Schloss Deutschlands. Hier liegt die Wiege Sachsens, ein wirklich geschichtsträchtiger Ort. In die spätgotische Burg zog auch die allererste Porzellanmanufaktur ein, der Vorgänger der heutigen Manufaktur Meissen. Wenn es ums Porzellan geht, schreibt man den Stadtnamen übrigens mit doppeltem s, also auch: „echtes Meissener“. Ist die Stadt selbst gemeint, schreibt man „Meißen“.
Den häufigen Fehler können wir aber gut verstehen, immerhin erscheint als erstes Ergebnis nicht die Stadt, sondern die Website der Porzellanmanufaktur, wenn man bei Google nach „Meißen“ sucht. Praktisch jeder kennt das weiße Gold aus Sachsen, aber wohl nur die wenigsten die kleine Stadt an der Elbe. Das Porzellan, das viele Menschen – auch du im fernen Frankfurt – so schätzen, spaltet hier die Gemüter. Denn gut dreihundert Jahre nach ihrer Gründung ist die Manufaktur heute ein dickes Zuschussgeschäft für den Freistaat Sachsen. Hör dich doch einfach mal in der Stadt um, was die Leute dazu sagen – und dann besuche unbedingt auch die Manufaktur selbst und schau dir an, wie das Porzellan hergestellt wird.
Du fragst, ob du im Osten erst zum Wessi werden wirst. Ich glaube: ja. Ich kann dir leider nicht versprechen, dass dir hier keine Vorurteile begegnen werden. Für viele Menschen im Osten war der Mauerfall nicht nur eine Befreiung, praktisch jeder hat dadurch einen teils schmerzhaften Bruch in der Lebensgeschichte erfahren. Viele mussten mit ansehen, wie ein regelrechter Ausverkauf ihres Landes stattfand. Noch heute werden Führungspositionen überproportional mit Westdeutschen besetzt. Und viele Menschen reagieren geradezu allergisch darauf, wenn sie das Gefühl haben, wieder einmal als „Ossis“ durch eine westdeutsche Brille betrachtet zu werden.
Ich selbst wurde übrigens umgekehrt erst im Westen zum Ossi. Aufgewachsen bin ich nahe der innerdeutschen Grenze, in einem kleinen Zipfel Thüringen, der vorwitzig in Bayern hineinragt. Egal, ob man nach Osten, Westen oder Süden fuhr, in ein paar Minuten war man „drüben“ – so hieß das noch lange nach der Wende. Und drüben war irgendwie alles besser. Es gab die besseren Kinos, die cooleren Kneipen – klar, dass ich nach dem Abi auch dort studieren wollte.
Erst als ich dort ankam, wurde mir klar, dass die wenigsten schon einmal den umgekehrten Weg gegangen waren, nicht mal für einen Urlaub. In den Pausen zwischen den Seminaren fragten mich meine Kommilitonen gut gelaunt, ob es bei uns schon Strom und Fotografie gab. Ich sagte, klar, wie hätte die Stasi sonst die Leute bespitzeln sollen. Auf einer WG-Party erklärte mir ein bayerischer Student, der in seinem Leben noch keinen Cent Steuern gezahlt hatte, dass mit „seinem“ Soli bei „uns“ die blühenden Landschaften finanziert würden. Ich schaute auf das kleine gestickte Polo-Pony auf seinem Hemd und sagte nichts.
Liebe Anne, ich reise ganz ohne Erwartungen aber mit offenen Augen nach Frankfurt – und freue mich schon wahnsinnig auf die große Stadt und meine neue Aufgabe. Jetzt, da du das mit Meißen/Meissen weißt, hast du hier schon einen Stein im Brett. Und falls es mit dem Dialekt einmal schwierig werden sollte, dann lächle einfach und sage im Brustton der Überzeugung: „nu!“