Wecker
Susanne Breit-Keßler Wecker
Susanne Breit-Keßler
Time is on my side
Kurzzeitwecker sind Philosophen des Alltags
13.01.2021

Rrrring! In der Küche scheppert mein schöner Retro-Kurzzeitwecker. Nett von ihm, denn hätte er geschwiegen, wäre der Apfelkuchen verbrannt. Oder der Käse auf der Lasagne dunkelbraun und bitter. Das Gemüse angebackener Matsch am Boden des Topfes. Rrrring! Silbrig tickert er die Sekunden in den Raum und lärmt in mein verlorenes Zeitgefühl. Denn während er Wache hält, tauche ich in Bücherwelten ein, verplaudere mich mit Freunden am Telefon,  rate gebannt vor dem Fernseher, wer der Täter ist. Oder schreibe einen Blog für chrismon. Ich täusche mich darüber hinweg, wie schnell Zeit verstreicht.

"Zeit ist eine Ausdehnung der Seele.“

Rrrring! Der Wecker holt mich in eine Realität zurück, in der ich jetzt sein sollte, damit nicht geschieht, was an Küchenunheil passieren könnte. Er tut das aber nur, weil ich ihn aufgezogen habe - weil ich ganz einfach weiß, dass ich immer wieder Gefahr laufe, kurzzeitig zu vergessen, wie lange Minuten sein können, obwohl sie tickticktick vergehen. Der Kurzzeitwecker versucht mir das beizubringen. Immerhin: Während er darauf achtet, dass ich rechtzeitig da bin, wo ich sein soll, vertreibe ich die Zeit nicht, schlage sie auch nicht tot, die Ärmste, bringe sie nicht herum und damit um.

Ich nehme sie mir, habe, nutze sie. Vielleicht nicht für das, was ich besser tun sollte, beobachten, rühren, an- und ausschalten, probieren, umfüllen ... aber rrrring, er holt mich zu meinen Aufgaben, während ich anderes tue, das vielleicht warten könnte. Wir sind ein richtig gutes Team. Sein Vorgänger hat mich kurz vor seinem Ende immer gelinkt. Fünf Minuten bevor er mich in die Gegenwart tönen sollte, ist er stillgestanden. Wie es die Zeit auch manchmal tut. Aber damit hat er Schlimmes angerichtet, weil ich vertrauensvoll nicht aufgepasst habe. Jetzt ist er weg. Ewige Jagdgründe sozusagen.

Der neue ist aufmerksam. Ich habe ihm das Zitat von Kirchenvater Augustin erläutert, der meinte: "Zeit ist eine Ausdehnung der Seele.“ Meine braucht viel Raum. Das weiß der Wecker offensichtlich und erinnert rechtzeitig daran, die Flügel auch mal wieder einzuklappen. Rrrring. Entschuldigen Sie, ich muss in die Küche.

Vom Blog zum Buch:
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Kolumne

Susanne Breit-Keßler

Essen und Trinken hält Leib und ­Seele zusammen. Und darüber Neues zu lesen, macht den Geist fit. Viele Folgen lang hat Susanne Breit-Keßler Ihnen Woche für Woche ihre Gedanken dazu aufgeschrieben und guten Appetit gewünscht. Im Sommer 2024 endete die Kolumne. Die Texte sind weiter im Archiv abrufbar.