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Kennengelernt haben wir uns in Erfurt. Wir arbeiteten beide im Migrationsbereich und waren teilweise als Übersetzer für afghanische Flüchtlinge tätig. Wir saßen oft am Fluss und versuchten, all unsere Probleme und Herausforderungen sowie die traurigen Geschichten von Flüchtlingen, die wir den ganzen Tag hörten, für ein paar Stunden zu vergessen. Im Gegensatz zu anderen sprach er nie über seine Familie und wann immer wir ihn danach fragten, saß nur ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht, während die Stille seinen ganzen Körper erfasste.
Nach der Machtübernahme der Taliban versuchte er alles, um seiner Familie zu helfen. Da sie keine Arbeitserfahrung in lokalen oder internationalen Organisationen hatten, konnte er nichts tun. Mit dem geringen Gehalt, das er in seinem Teilzeitjob verdiente, konnte er sie nicht einmal finanziell unterstützen. Also reduzierte er um seiner eigenen Gesundheit willen den Kontakt zur Familie, damit ihre Probleme nicht seine Seele zerstören würden.
Als er mich dieses Mal in Berlin besuchte, wirkte er unbehaglich. Irgendetwas bedrückte ihn. Er fing immerzu an, etwas zu erzählen, doch versank dann schnell in Gedanken. Nach ein paar Stunden, als wir in der Straßenbahn standen, um zur Geburtstagsfeier seines Freundes zu fahren, fing er an zu erzählen, was ihn bedrückte. „Vielleicht kann ich meine Schwester hierher einladen. Aber ich müsste so viel mehr verdienen als jetzt und alle Ausgaben für sie übernehmen.“
Nach vier Monaten nahm er schließlich Kontakt zu seiner Familie auf, genauer gesagt zu seiner verheirateten Schwester. Ihr Mann war illegal in den Iran gegangen. Er bekam einen Job in einer Autowaschanlage in Teheran und schickte regelmäßig Geld an seine Frau und Kinder. Eines Tages rief ein iranischer Kunde die Polizei an und informierte sie über die afghanischen Schwarzarbeiter, woraufhin die Polizei sie alle zurück nach Afghanistan abführte.
Um ihre Familien zu ernähren, riskieren die Menschen ihr Leben
Sein Schwager kann im Winter nicht in den Iran zurück. Schon die illegale Einreise ist ein Spiel mit dem Tod. Erst geht es südwärts in die Provinz Nimroz, dann nach Pakistan, tagelang durch die Berge. Dort kann man im Winter kaum überleben. Man muss warten, bis es wärmer wird. Aber wie soll man die Zeit bis dahin über die Runden bringen?
Der Iran ist eines der beliebtesten Ziele für afghanische Familien, die in Armut leben. Viele riskieren ihr Leben und gehen illegal dorthin, um zu arbeiten, weil sie dieselbe Sprache sprechen und weil es Nachbarländer sind. Ich kenne diese Geschichten aus meiner eigenen Familie und von Verwandten. Meine Mutter arbeitete als Dreizehnjährige auf einer Obstplantage und in einer Konservenfabrik. Meine Onkel waren auf dem Bau beschäftigt. Einen guten Arbeitgeber zu haben, war ein großes Glück. Die meisten zahlten nach getaner Arbeit wenig oder gar keinen Lohn. Als illegale Flüchtlinge konnten sie sich nicht einmal beschweren. Um ihre Familien in Afghanistan vor dem Verhungern zu bewahren, arbeiteten sie unter schlimmsten Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen.
Dieser Winter ist besonders kalt in Afghanistan
Dieser Winter ist einer der kältesten der letzten Jahre. Täglich hören wir von Menschen, die erfroren sind. Seine Schwester schickte ein Foto vom Wasserfall Khinjan. So tief gefroren habe sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Dann zeigte er mir ein Foto von seinen Nichten und Neffen. Sie sind alle noch nicht einmal 10 Jahre alt. Keiner von ihnen lächelte.
Etwas anderes schien ihn zu beunruhigen. Er hatte kaum noch die Kraft, es auszusprechen. „Wenn du Hunger hast und siehst, wie deine Familie vor deinen Augen verhungert, dann tust du alles. Meine Schwester hat mir erzählt, dass ihr Mann überlegt, sich den Taliban anzuschließen, wenn er nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll. Hast du eine Ahnung, was das für die Kinder bedeuten würde?“ Wir seufzten beide tief und starrten aus dem Fenster in den Berliner Regen.