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Ritualkritische Gedanken zur Gedenkfeier des Bundespräsidenten
Es ist immer gut, ein paar Tage zu warten, bis man sich ein Urteil über ein mediales Ereignis bildet. Das gilt auch für traurige Anlässe wie die Gedenkfeier für die Corona-Toten vom vergangenen Sonntag. Hier nun ein ritualkritischer Rückblick.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
24.04.2021

Eine Woche kann lang sein in Corona-Zeiten. Fast hat man die Gedenkfeier des Bundespräsidenten schon wieder vergessen. Eine nicht so grandiose Schauspieleraktion und der dazu gehörige Sturm in den digitalen Wassergläsern hat sie in den Hintergrund gedrängt. Zugleich zeigt sich im Vergleich, was gut an dieser Feier war. Sie war still und würdevoll. Betroffene erzählten ihre Geschichten. Musik schuf einen Raum des Innehaltens.

Aber es stellen sich mir im Rückblick auch Fragen. Wer hatte hieran eigentlich ein Interesse und ein Bedürfnis? Anders als bei einer akuten Katastrophe, die mit einem Schlag Menschenleben zerstört und eine entsprechende Reaktion auslöst, ist die Pandemie eine scheinbar endlos sich hinziehende Not. Da gibt es Trauer, aber nicht nur. Es gibt auch Wut, Ärger, Streit, Bitterkeit, Ermüdung, sogar Gewöhnung. All dies treibt die Menschen aber nicht in Kirchen oder an säkulare Gedenkorte.

Doch es ist legitim, wenn ein Bundespräsident trotzdem zu einer Gedenkfeier einlädt. Besonders den Betroffenen gegenüber erwies er sich als ein guter, feinfühliger Gastgeber. Nur an einem Punkt seiner Rede habe ich gestutzt. Da erklärte er, jetzt sei keine Zeit für „Schuldzuweisungen“, sondern nur für Gedenken und Trauern. Wer gab ihm das Recht dazu? Und hat er damit nicht einen wesentlichen Aspekt von Trauerfeiern ausgeblendet?

Zum Vergleich: Als junger Pastor glaubte ich, dass Menschen in Trauergottesdiensten vor allem traurig seien und getröstet werden wollten. Doch ich stellte fest, dass dies nur ein Motiv unter anderen ist. Ebenso wichtig sind Zorn und Enttäuschung sowie die Sehnsucht nach Versöhnung. Dazu jedoch kann es nur kommen, wenn das Schwierige auch benannt wird. Ich habe es mir deshalb zu Übung gemacht, wenn nötig, in einer nicht beschämenden Weise auch Negatives und Strittiges zur Sprache zu bringen. Denn sonst kann ein Abschied im Frieden kaum gelingen.

Da die Gedenkfeier dafür nicht recht gedacht war, ist es wohl kein bloßer Zufall, dass ein paar Tage danach besagte Schauspielaktion für Ärger sorgte.

Zum Schluss eine ritualpraktische Beobachtung: Nach ihren jeweils sehr beeindruckenden Reden wurden die Betroffenen gebeten, von einem Beistelltisch eine entzündete Kerze zu nehmen und in Begleitung eines „Verfassungsorgans“ an eine „Gedenkstelle“ in der Mitte des Raums zu stellen. Wie die meisten selbst ausgedachten Rituale hat mich dies nicht überzeugt. Warum durften die Betroffenen die Kerzen nicht selbst entzünden? Warum sollten sie sie dort abstellen, wo sich in Konferenzräumen immer die Blumeninsel befindet? Wofür steht diese Mitte eigentlich? Kann sie einen Altar ersetzen? Und warum wurden die Betroffenen von hohen Staatsrepräsentanten begleitet? Sollte damit ein Einverständnis von Politik und Bevölkerung dargestellt werden, dass es so gar nicht gibt?

Aber jedes Ritual, egal ob gelungen oder misslungen, macht etwas sichtbar. Ich werde nicht vergessen, wie die Bundeskanzlerin bei dieser Trauerfeier aussah: sehr erschöpft, geradezu gezeichnet, vielleicht von ihrer Impfung am Tag zuvor, ganz sicherlich aber auch von diesem langen Corona-Jahr.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur