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Als Klinikseelsorgerin besuchte ich eine Weile einen alten Mann, der bei seinen Krankenhausaufenthalten fast sein gesamtes Hab und Gut in ein paar Säcken bei sich hatte.
Mit seinem eindrucksvollen Bart erinnerte er nicht nur mich selbst im Sommer an den Weihnachtsmann.
Ich lernte ihn kennen, als die Polizei ihm den Tod seiner Tochter mitteilen musste. Diese Nachricht würde ihn jetzt nicht erschrecken, meinte er sehr gelassen, schon lange habe er damit gerechnet. Er brauche auch keine Hilfe, betonte er, begann aber sofort, als die Polizisten das Krankenzimmer verließen, mir sein Leben zu erzählen
Altwerden ist nichts für Seefahrer
Als überzeugter Seefahrer habe er ein wunderbares Leben gehabt, war er sich sicher, er kannte die ganze Welt und seine Tattoos waren noch ordentlich in einer Hafenkneipe und keinem Studio gestochen. Nur das mit der Zukunft, das sei jetzt ein Problem; Altwerden sei eben nichts für Seefahrer. Es war eindrücklich, wie empört er das Wort Seniorenheim aussprechen konnte.
Jede Hilfe des Sozialdienstes lehnte er kategorisch ab, die wollen sich ja nur in meine Leben einmischen. Ärzte und Ärztinnen waren für ihn ein notwendiges Übel.
Als Pfarrerin war ich aus seiner Sicht weniger gefährlich und durfte kommen. Er erzählte mir von Bangkok, der Einschulung seiner Tochter und dem Leben auf dem Schiff. Er war dabei sichtlich zufrieden und zwischen uns entstand mit der Zeit eine freundliche Vertrautheit.
Als ich mich eines Abends wie gewohnt von ihm verabschieden wollte, winkte er mich näher heran, nahm meinen Kopf in seine Hände und bedankte sich eindringlich, dass ich ihn immer wieder ertragen habe. Und bevor ich mich noch irgendwie verhalten oder etwas sagen konnte, gab er mir völlig unerwartet einen dicken stacheligen Kuss auf den Mund.
Nicht jeder Mann mit Bart ist gleich der liebe Nikolaus
Ich war absolut überrumpelt, sah noch, dass er lächelte und ging reichlich perplex ohne ein Wort aus dem Zimmer. Ich erzählte der Ärztin davon, die mit mir empört war. Ich redete mit einer Freundin darüber, meiner Familie und wir waren uns sehr einig, dass ein solcher Kuss gar nicht geht. Genau diese Grenzen meiner Freundlichkeit wollte ich ihm am nächsten Tag energisch erklären. Kaum auf Station kam die Ärztin auf mich zu: „Wir sind hier alle noch ganz überrascht, ihr „Zausel“ (so nannte ich ihn manchmal) ist tot.“ Er müsse ganz friedlich gestorben sein, fügte sie hinzu, selbst die Bettnachbarn hätten nichts bemerkt.
Heute denke ich ausgesprochen gerne an diesen widerspenstigen Seemann, der einfach in allem ein wenig zu laut, zu grell und zu ruppig war. Den ärgerlichen kratzigen Kuss habe ich ihm offensichtlich verziehen.
Grundsätzlich mag ich ja solche Zausel, die in kein Krankenhaus passen, ihr Leben auf sehr eigene Art regeln und verteidigen und anecken. Sie gehören zur bunten Vielfalt der Welt - auch wenn nicht zuletzt dieser Kuss zeigt, dass nicht jeder bärtige alte Mann im Advent gleich der liebe Nikolaus ist.