Lena Uphoff
20.10.2010

Gestern bin ich meinem alten Ich begegnet. Ich hatte große Mühe den ausrangierten Brummer wieder zu erkennen. Das soll ich gewesen sein, murmelte ich, als wir uns in die Augen sahen, und versuchte mich zu erinnern, wo und wann ich diese Version meiner selbst hinter mir gelassen, abgelegt, vergessen hatte.

Der Ex-Arnd merkte nicht, dass mir die Begegnung ein wenig peinlich war. Er rannte auf mich zu, drückte mir aufgeregt die Hand und plauderte sofort los: "Schön Sie endlich kennen zu lernen. Genau so habe ich Sie mir vorgestellt. Und? Na? Freuen Sie sich auch ein wenig?" Atemlos erzählend, leuchtende Augen ­ so stand er vor mir. Ein Fremder eben. Ob er mich überhaupt wahrnahm?

Dieser alte Arnd konnte sich heftig über alle Ungerechtigkeiten der Welt erregen. Und er ging ganz selbstverständlich davon aus, dass man seine Meinung teilte. Er war fast immer verliebt und in den meisten Fällen wurde dieses Gefühl nicht erwidert. Dafür liebten ihn die Kellnerinnen seiner drei Stammkneipen, was er jedoch nicht bemerkte, sondern erst Jahre später erfuhr. Er zog nächtelang um die Häuser, nannte ziemlich viele Leute "Freunde" und war immer für eine spontane Aktion gut.

So brach er einst an einem tristen Novembersonntag in Stuttgart auf, um irgendwo einen Kaffee zu trinken. Am Abend rief er seinen Chef aus Paris an und bat um drei Tage Urlaub.

Als er mir so gegenüberstand, war er mir einfach zu laut, zu forsch, zu aufdringlich. Ich schämte mich, er gewesen zu sein. Als er dann über die Kerle schwadronierte, die aus dem Büro nach Hause fahren, mit der Familie zu Abend essen und dann den Tag vor dem Fernseher ausklingen lassen, stieg in mir leise, aber fühlbar der Ärger hoch. Was will dieser Laffe? Ich muss mit meiner Kraft haushalten. Kann sich so einer vorstellen, dass man zu müde ist, um noch einmal wegzugehen? Kann so einer begreifen, dass man einfach keine Lust hat, seine Zeit in einer Kneipe totzuschlagen, mit Leuten, die man nicht kennen lernen möchte? Dass man es lieber gemütlich hat, dass man Ruhe braucht, dass es okay ist, ins Programm reinzuschlafen, das versteht der nicht.

So wenig kapiert er, dass es sinnlos ist, sich über Dinge aufzuregen, gegen die man sowieso nichts tun kann. Der Satz aus der Operette ist nun mal wahr: Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. Dieser alte Arnd, Anfang zwanzig, der hielt sich für unsterblich, der kannte keine Grenzen seiner Energie, der nahm keine Rücksicht auf jene, die es geruhsamer wollten. Der war zu frech, zu vorlaut, zu naseweis.

Ich habe mein früheres Ich unterwegs verloren, einfach abgestreift wie eine Schlange ihre Haut. Wenn ich alte Bilder von mir sehe, wenn ich meinen alten Boss mal treffe und wir von früher reden, dann begegne ich ihm wieder. Ich würde meinem jungen Ego so gerne ein paar Tipps gegeben haben. Etwa, wie man mit viel weniger Nerven- und Kraftaufwand zu demselben oder einem besseren Ergebnis kommt. Bloß: Er würde mir vermutlich gar nicht richtig zuhören. Und wenn er es doch täte, so würde er mich höchstens milde belächeln und es schlicht nicht verstehn. So war ich eben, auch wenn ich heute nicht mehr weiß, warum.

Ach, es ist Gewinn und Last des Reifens, mehr zu wissen, mehr zu ahnen, sich deshalb schneller Sorgen zu machen und mehr Angst zu haben. Leider bin ich noch zu jung, mir zu verkneifen, was ich früher nicht begriff. Ich kann es einfach nicht lassen, Jüngeren zu raten, sie zur Vorsicht zu mahnen, sie zu warnen, manchmal auch ungefragt. Zum Schweigen bin ich noch nicht weise genug. Die Einsicht, dass meine Ratschläge unbefolgt bleiben werden, schmerzt aber schon deutlich weniger. So schließe ich auch Frieden mit meinem alten Ich. Warst doch ein netter Kerl, denke ich, und schließe das Foto-Album.

"Der Fluch des Taxifahrers" heißt das Buch mit Arnd Brummers Kolumnen. Zum Preis von 10 Euro ist es beim Verlag zu beziehen. (Bestellhinweise auf Seite 13)

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