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Gelassenheit ist etwas Wunderbares. Schon das Wort strömt eine schöne Atmosphäre von Ruhe, Entspannung und Stressfreiheit aus.
Die meisten von uns regen sich über jede Kleinigkeit auf: Sie gehen leicht in die Luft, beim Warten in der Autoschlange, vor dem Postschalter, wegen der unpünktlichen Bahn, dem Streit am Mittagstisch . . . Unsere Tage sind voller Anlässe, die Ruhe zu verlieren. Manchmal kann schon eine heraufziehende Grippe Panik auslösen, weil ich sie gerade jetzt am allerwenigsten gebrauchen kann. Und nun stehe ich vor der Entscheidung, mich mit Medikamenten dagegen zu wehren oder mich in mein Schicksal zu ergeben, mich vielleicht ein paar Tage ins Bett zurückzuziehen und sie vorübergehen zu lassen. Erfahrungsgemäß dauert eine Erkältung, wenn man sie behandelt, acht Tage, und wenn man sie nicht behandelt, eine Woche; entscheidend ist die innere Einstellung.
Warum fällt es mir so schwer, die sinnvollere Lösung zu wählen und die Dinge so zu nehmen, wie sie nun einmal sind? Gelassenheit lässt sich erwerben, indem man sich sagt: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Ich bin schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden. Den Kopf wird es schon nicht kosten. Was wäre das Schlimmste, das mir jetzt passieren könnte? Diese Frage kann helfen, wieder das richtige Augenmaß für das zu finden, was mich gegenwärtig ängstigt oder übermäßig beeindruckt.
Denn wir neigen in solchen Situationen dazu, unsere Sorgen zu übertreiben. Wir übertreiben aus Angst, dass unser Leben aus dem Gleichgewicht gerät und wir panikartig in einen fürchterlichen Strudel der Ereignisse geraten könnten.
Besser wäre, der Panik ade zu sagen! Ich ziehe die gelassene Lösung vor und ergebe mich der Erkältung. Ich genieße die Ruhe, dieses Auf-mich-selbst-zurückgeworfen-Sein. Dann gehe ich gestärkt aus der Krankheit hervor. Ich ergebe mich in mein Geschick und vertraue darauf, dass dieses Geschick in guten Händen liegt. Ohne dieses Urvertrauen ist Gelassenheit schwer vorstellbar. Wer voll Misstrauen und Ängstlichkeit steckt, wird immer neue Gründe dafür ausspähen und aus einem Zustand nervöser Gespanntheit nicht herauskommen. Gelassenheit zahlt sich aus durch inneren Frieden und ein meist glücklicheres Geschick. Die Vorbedingung ist, dass wir loslassen können, das heißt aus der Hand geben können, dass wir es darauf ankommen lassen, nicht alles unbedingt selbst tun und herbeizwingen zu wollen.
Gelassenheit ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit. Dem Gleichgültigen fehlt es an Anteilnahme. Der Gelassene sieht zwar die Dinge mit Abstand, aber durchaus nicht ohne Gefühle. Nur, er steht nicht unter Gewinnzwang. Für ihn sind die Fairness im Ablauf und die Kunst des Spiels wichtiger als das Siegen oder jedenfalls ebenso wichtig, denn wer wäre nicht gern erfolgreich!
Der auf diese Art Gelassene ist ja nicht weniger erfolgreich: Zwei Sportschützen zielen, aber der eine schielt dauernd zum anderen hinüber und verfehlt die Zwölf. Der andere entspannt sich, konzentriert sich auf das Wesentliche und trifft. Und selbst wenn er danebenschießt, kann er das ertragen, weil er weiß, dass zum Erfolg als dessen ständiger Schatten auch der Misserfolg dazugehört. Nur wer den Erfolg mit Sicherheit erreichen, ja erzwingen will, dem droht der Misserfolg; er ist allzu verkrampft und verspannt.
Der Mangel an Gelassenheit ist meist mit anderen Schwächen verbunden: mit Angst um die eigene Person, um die eigene Existenz. Erst wer diese Sorge hinter sich gelassen hat, kann gelassen sein, weil er sich sagt: Ich muss nicht alles haben, nicht alles können, vor allem nicht gleichzeitig. Ich schaue nicht zurück ("Hättest du doch . . .!"). Ich schaue auch nicht scheel voraus ("Du solltest unbedingt . . .!" oder "Du müsstest eigentlich . . .!"). Ich lebe im Jetzt und Hier. Ich tue, was ich kann und so gut ich es kann, und besser kann ich es nicht. Ich bin, wie ich bin; ich kann und will kein anderer, keine andere sein.
Diese Gelassenheit ist wichtig sowohl für die Gesundheit wie für jenes sanfte Glück eines Menschen, der vom Schicksal nichts mehr erzwingen und einklagen will, was er doch nicht erreichen kann. Der Blick für das Erreichbare ist ein Zeichen der Reife, also von bewusst erlebtem Leben. Übrigens ist Reife unabhängig von der Zahl der Lebensjahre. Junge Leute würden das cool nennen.
Leider begreifen Menschen meist erst durch Schicksalsschläge und Enttäuschungen, dass Aufgeregtheit und nervöses Wetteifern wenig bewirken außer uns aus dem Gleichgewicht zu bringen und uns die Gelassenheit zu rauben. Umso wichtiger ist es, in einer Stressphase aus der eigenen Situation herauszutreten, alles, was uns im Moment verwirrt und überfordert, zurückzuschieben und eine Stunde lang in Ruhe nachzudenken: Was tue ich da eigentlich? Was ist wirklich wichtig? Was wird sein, wenn ich nicht mehr bin? Aus den Antworten wird uns die zunächst erschreckende Erkenntnis entgegenschlagen: Wenn ich nicht wäre, ginge das Leben genauso weiter oder doch fast genauso. Bin ich wirklich anderen oder nur mir selbst so unentbehrlich?
Wir lernen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Wir begreifen, dass wir nicht alles selbst entscheiden und machen müssen. Ja, dass das Leben auch ohne uns weitergehen würde. Und können dem unvergesslichen Papst der Ökumene Johannes XXIII. beistimmen, der eine Merkformel der Gelassenheit prägte: "Nimm dich nicht so wichtig, Johannes!"
Am Ende dieser Stunde werde ich vielleicht zu der Erkenntnis kommen, dass ich Menschen aus ganz anderen Gründen wichtig bin. Weil ich Zeit für sie habe, mit ihnen fröhlich oder traurig sein kann, ihnen zuhöre und ihnen weiterhelfe, wenn sie das wünschen, ganz persönliche Zuwendungen also, für die ich bisher nicht genug Zeit hatte, weil all die anderen Lasten an mir hängen.
Nach diesem Erkenntnisschritt wird es höchste Zeit, mit den unwesentlichen Dingen aufzuräumen und mich freizumachen für das, was wirklich wichtig ist. Dann kommt vielleicht heraus, dass wir weniger Termine, aber dafür mehr Zeit haben, uns zu unterhalten, zu lesen, zu meditieren, zu wandern und dem Rauschen der Bäume zu lauschen. Gelassenheit bringt neue Lebensqualität.
Ich weiß, dass es Wichtigeres gibt, dass ich nicht für alles zuständig bin und dass mein Sorgen und Ärgern nichts nützen. Dadurch kann sogar neue Energie frei werden, die sich nicht mehr in Aktionismus verschwendet. Ich sage mit dem Theologen Friedrich Christoph Oetinger: "Herr, gib mir die Kraft zu ändern, was ich ändern kann, die Gelassenheit hinzunehmen, was ich nicht ändern kann, und die Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden."
Leserzuschriften zum Thema Gelassenheit
Unerwünscht ist jene Gelassenheit, die eigentlich Fühllosigkeit, Nicht-eingreifen-Wollen, Sturheit des Denkens meint. Zum Beispiel wenn jemand einer Frau, die von einer Brücke springen will, seelenruhig zuschaut und sich auch noch gut dabei fühlt, weil er immerhin nicht wie andere "Spring doch!" schreit. Dagegen das kleine Mädchen, das ich auf einem Spielplatz beobachtete: Es betrachtete das Balgen der Jungen mit einer gewissen Überlegenheit. Der alte Zausel, der ich bin, lernt daraus: Du kannst dich auch einmal zurückhalten. Kannst Gelassenheit gewinnen, indem du ohne hohle Kinderromantik von Kindern lernst.
Ferdinand v. Menne, Münster
Je mehr ich akzeptiere, dass nicht immer alles glatt läuft und dass auch Schwieriges oder gar Schmerzhaftes zu meinem Leben gehört und gehören darf, kann ich gelassener werden. Gelassenheit gewinne ich, wenn ich vertrauen darf: darauf, dass ich nicht allein bin, nicht dem sinnlosen Zufall ausgeliefert, dass es weitergeht, ja, dass es richtig werden wird: und das auch durch Schwierigkeiten hindurch und auch dann, wenn es anders kommt, als ich es mir gewünscht habe. In Gelassenheit steckt "lassen". Loslassen können. Und auch: überlassen können.
Ulrike Bauspiess, Heuchelheim
Ich schätze jenen Text sehr, den Sie vielleicht auch kennen: Es geht um einen Mann, der gefragt wird, warum er eigentlich immer so gesammelt sei. Der sagt: "Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich . . ." Die Fragesteller entgegnen: "Das tun wir doch auch." Aber er belehrt sie: "Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon, wenn ihr steht, dann lauft ihr schon, wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel." Ein Wundermittel ist der Text nicht. Dazu ist es zu schwer, gelassen zu sein. Aber helfen kann er.
Barbara Wagner, Mülheim a. d. Ruhr
Im Vertrauen
Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen, lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!
Das Thema des Monats Januar: Treue
Viele sehnen sich nach einer festen Beziehung, in der sie sich auf den Partner unbedingt verlassen können. Und doch bleibt daneben oft der Wunsch, sich selbst nicht ganz festzulegen und auch andere Gelegenheiten zu nutzen. Wie halten Sie es mit der Treue?
Zum Thema : Treue schreiben Sie uns bitte bis zum 30. November an
chrisma
Stichwort: Im Vertrauen Postfach 20 32 30 20222 Hamburg
E-Mail: im-vertrauen@chrisma.de
Ich lebe im Augenblick. Ich schaue nicht zurück, schaue nicht voraus. Ich lebe im Hier und Jetzt
Ulrich Beer wurde durch seine psychologischen Kommentare in der ZDF-Serie "Ehen vor Gericht" bekannt. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst als Erzieher in einem Jugendwohnheim. 1966 eröffnete er eine Praxis als freiberuflicher Psychologe. Nebenher verfasste er zahlreiche Ratgeber wie "Kinder brauchen Zuversicht" und "Erste Liebe lernen". Sein jüngstes Buch: Lebenskraft aus Lebenskrisen, Echter Verlag, Würzburg, 344 Seiten, 39,80 DM