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Wir gehen durch die Straßen in Belém, einer Stadt im Norden Brasiliens. Mitten auf dem brütend heißen Gehweg sitzt ein Mann auf seinen Beinstümpfen. Er hat keine Arme mehr. Der lebende Torso wirft sich uns in den Weg mit der Bitte um eine milde Gabe. Ein Barbar, wer hier nicht mitfühlt und sich nicht großherzig zeigt! Moment, sagt der einheimische Führer, so einfach ist das nicht. Die Verwandten dieses Mannes schleppen ihn jeden Morgen gnadenlos in die Sonne, damit er mit seinem Elend für sie Geld heranschafft. So viel, wie er bekommt, würden sie nie verdienen. Also muss er ran Tag für Tag, bei jedem Wetter. Bekäme er nichts mehr, müsste er nicht betteln. Aber was dann, frage ich. Der Führer zuckt die Schultern. Ich gebe dem Mann auf der Straße alles Geld, das ich dabeihabe. Gar nichts zu tun wäre mir schäbig vorgekommen. Trotzdem bleibt Unsicherheit. George Bernard Shaw hat Mitleid geringschätzig als "Aasfresser des Elends" bezeichnet.
Warum, beispielsweise, gibt man dem Bettler einen Euro? Manchmal wohl, um mit der guten Tat das eigene Gewissen zu beruhigen. Man hat gegeben, fühlt sich gönnerhaft vergnügt und ist weitere Verantwortung los. Kann das Gewissen jedoch ruhig sein, wenn einer zum Betteln vorgeschickt wird oder wenn er das gesammelte Geld in Fusel investiert? Es könnte ja sein, dass man dadurch mitschuldig wird an der endlosen Verlängerung des Elends. Aber aus pädagogischen Gründen nichts zu geben, damit das Mitleid heischende Gegenüber etwas lernt und sich selbsttätig aus dem Staub erhebt, hinterlässt auch einen faden Geschmack. Wer bin ich, dass ich mir ein Urteil anmaßen kann über die Lebensgeschichte eines anderen Menschen, ihn im Vorübergehen über seine tatsächlichen Katastrophen und sein mögliches Fortkommen belehre? Mein Mitleid gehört jedem Bittenden schon deswegen, weil ich selbst nicht in einer solchen Situation sein möchte prinzipiell angewiesen auf die Großmut anderer.
Auf Schritt und Tritt von Mitgefühl begleitet zu werden ist eine unerfreuliche Vorstellung. Zumal dann, wenn das Mitleid einen herablassenden Zug hat. Behinderte Menschen, die oft genug auf Gleichgültigkeit oder Ablehnung stoßen, müssen sich manchmal auch energisch zur Wehr setzen, um gefühlsduseligem Mitleid und aufdringlicher Hilfsbereitschaft zu entgehen. Da hat einer längst gelernt, mit seinen Einschränkungen umzugehen, den Rollstuhl geschickt zu manövrieren, dann stürmt ein täppischer Zeitgenosse heran und wirft ihn mit einer Mitleidsgeste schier vor die Straßenbahn. Wahres Mitleid will gelernt sein: Es entwürdigt einen Menschen, ihn nach vorgefertigten Maßstäben einzustufen und sein Leben dann als weniger grandios oder weniger lebenswert im Vergleich zur Mehrheit abzustempeln. Solch taktlos-betuliches Mitleid hat etwas Ehrenrühriges; es respektiert das Anderssein des anderen nicht, der dann um Hilfe bittet, wenn er selbst dies will.
Ganz fies wird Mitleid, wenn es mit Verachtung gepaart ist. Kinder und Jugendliche sind Meister darin, andere spüren zu lassen, was diese für erbärmliche Kreaturen sind. Das falsche Fabrikat der Turnschuhe, ein No-Name-T-Shirt schon ist einer weg vom Fenster. "Mitleiden fängt an, wo die Achtung aufhört, und kein Gefühl, das nicht auf Achtung gegründet ist, kann einigen Wert haben", hat der aus einer verarmten Bauernfamilie stammende Dichter der Aufklärung Johann Gottfried Seume an die Frau geschrieben, in die er unglücklich verliebt war. Er wird die zeitlose Schattenseite des Mitleids gespürt haben. Als einer, der auf der sozialen Leiter unten stand, konnte er der geliebten Frau nur ein mitleidiges Lächeln abringen. Statt persönlichen Ansehens erntete er Geringschätzung, statt Leidenschaft distanziertes Mitgefühl das tut scheußlich weh, weil es das Selbstwertgefühl verletzt. Joviales und verächtliches Mitleid sehen einen nicht als gleichberechtigtes Gegenüber; der so Bemitleidete ist schlicht herabgestuft.
Aber es ist falsch, Mitleid mit Verachtung gleichzusetzen. Man denke nur an die Situationen, in denen sich jemand in der Anteilnahme am Schicksal eines anderen regelrecht verströmt und handelt. Doch kommt das Mitgefühl auch an? Da lohnt es, in sich selber hineinzuhorchen: Was geht in mir vor, wenn ich das Mitleid meiner Mitmenschen spüre? Mitleid genießen kann ich zeitweise, wenn ich zum Beispiel fiebernd im Bett liege. Da sind ein liebevoller Ehemann, besorgte Freunde und aufmunternde Ärzte gerade das Richtige, um zunächst sich der Krankheit erschöpft anheim geben und dann der Genesung vergnügt entgegenstreben zu können. Auch in wirklich schweren Lebenskrisen tut solches Mitleid gut. Ich lasse es gerne denen zuteil werden, die sich darüber freuen oder die tatkräftige Sympathie dringend brauchen, um seelisch oder körperlich wieder auf die Beine zu kommen. Irgendwann, nach Tagen, Wochen oder Monaten, ist dann die Zeit der Schwäche vorüber, und meine Aufmerksamkeit kann sich neuen Aufgabenfeldern zuwenden.
Eine Welt ohne Mitleid wäre eine völlig apathische, lieblose Welt. Nur wer an den Passionen dieses Lebens Anteil nimmt, der ist ein einfühlender, verständnisvoller und warmherziger Mensch. Wer umgekehrt die respektvolle, hilfsbereite Sympathie anderer spürt und annehmen kann, der ist so stark, dass er schwach sein kann. Die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach schrieb: "Mitleid ist Liebe im Negligé." Zauberhafter vermag man nicht zu sagen, dass Mitleid zärtliches, gemeinsames Erleben sein kann.
Das meinen Leserinnen und Leser
Als Taxifahrer habe ich oft mit Menschen zu tun, die auf Hilfe angewiesen sind. Auf zurückhaltende Anteilnahme reagieren alle dankbar. Man muss sich allerdings Zeit nehmen und sehr behutsam in die Leidenswelt der Betroffenen eindringen. Sonst wird es als aufdringlich verstanden.
Jörn Winkelmann, 36 Jahre,
Bremen
Ein echtes Mitgefühl segnet die Erde, doch niemand verlangt ein Leben in ständiger Mit-Trauer. Anteilnahme ist konstruktiv. Wir selber gehen, bildhaft gesprochen, vom Dunkel zum Licht, was uns innerlich erbaut und den anderen auf seine Art ebenso. Meine Eltern sind beide psychisch erkrankt, weshalb ich mich mit meinem Mitleiden früh auseinander gesetzt habe.
Sophie Dennert-Steppe,
27 Jahre, Leutkirch/Allgäu
Mitleid ist in der Tat eine Zumutung! Menschen, denen das Leben eh schon hart mitgespielt hat, sind auch noch mit ihrer Scham konfrontiert, die durch das Mitleid zusätzlich entblößt wird. Ich plädiere für eine Haltung, die "Mitgefühl" ausdrückt. Daraus entsteht zwangsläufig persönliche Hinwendung, Respekt und Schutz der persönlichen Integrität.
Wolfgang Götzl, 52 Jahre,
Köln
Mitleiden ist etwas anderes als Bemitleiden. Gegen wirkliches Mitleid kann niemand etwas haben, denn "geteiltes Leid ist halbes Leid". Außerdem ist das Gefühl des Alleinseins ein wesentlicher Teil des Leidens.
Anne Bradác, 20 Jahre,
München
Mitleid gilt heute als etwas Negatives. Selbst von einem Leidenden wird erwartet, dass er sagt: "Ich brauche euer Mitleid nicht. Es reicht, wenn ich finanziell unterstützt werde." Als käme es auf Wärme, Nähe, Zusammenhalt gar nicht mehr an. So, wie Mitleid immer stärker abgewertet wird, wertet man das Wort "Egoist" immer mehr auf. Der neue Menschentyp soll sich zum "gesunden Egoismus" bekennen.
Marie-Luise Schulz,
48 Jahre, Braunschweig
Ich schaute in einen Kinderwagen und meinte, mein Herz müsse stillstehen: Anstatt eines strahlenden Babys sah ich ein uraltes, zwergenhaftes Gesicht. Die Mutter sah mein Entsetzen. Sie sagte: "Das ist Barbara, unser Gottesgeschenk. Wir haben gelernt, dafür dankbar zu sein." Eines wollte sie bestimmt nicht: mein Mitleid.
Ingeborg Nowak, 79 Jahre,
Münster
Nach dem schweren Schlaganfall meines Mannes tröstete mich am meisten eine Freundin, die meine Begeisterung teilte, wenn er mit dem Zeh wackeln und selbständig einen Brei löffeln konnte.
Hannelore Seibert, 49 Jahre,
Holzkirchen
Da ich von Geburt an eine Gehbehinderung habe, komme ich häufig in den "Genuss" falsch verstandenen Mitleids. Wenn Freunde mir helfen oder mich trösten, wünsche ich mir, dass sie dies um meiner selbst willen tun und nicht aus Mitleid. Wenn wir so miteinander umgehen, ist Mitleid möglich, weil es gleichberechtigt ist.
Brigitte Fuhrmann, 49 Jahre, Berlin
Bei Mitleid ist es wichtig, auch wirklich "mit"zuleiden. Will ich jemandem nur mein Bedauern über seine Situation ausdrücken, ist das schwer anzunehmen. Ich impliziere damit, selbst besser dazustehen. Michael Schwab, 19 Jahre, Plettenberg
Im Vertrauen
Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen, lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!
Das Thema im August: Geht mich die Ehe meines Kindes etwas an? Moderne Eltern haben gelernt, dass ihre erwachsenen Kinder über ihr Leben selbst entscheiden. Aber was tun, wenn es schief läuft? Müssen sie das Drama stumm mitansehen, oder dürfen sie sich einmischen?
Zu diesem Thema schreiben Sie uns bitte, mit Angabe Ihres Alters und Wohnorts, bis zum 30. Juni
chrismon
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Kann unser Gewissen ruhig sein, wenn einer das gesammelte Geld in Fusel investiert?
Verzwickte Fragen aus dem Alltag sie reizen zur schnellen Antwort und lassen einem doch keine Ruhe. Leserinnen und Leser sowie eine Expertin wagen sich an eine Lösung. SUSANNE BREIT-KESSLER ist gelernte Theologin und Journalistin. Heute wirkt sie als Regionalbischöfin in München