- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Weihnachten naht – und damit die Pflicht zu friedfertiger Geselligkeit. Tante Erika, seit Jahrzehnten zum Single berufen, wird beim familiären Beisammensein wieder stundenlang von persischer Literatur erzählen. Schwager Siegfried, pensionierter Lehrer, berichtet vermutlich einmal mehr über seine Sicht der Hauptschulen. Die Mutter rast mitten in der Unterhaltung vom Wohnzimmer in die Küche, um die brutzelnde Gans zu beträufeln.
Alexander, der Freund des Schwiegervaters, in früheren Zeiten Banker, befragt die Familie reichlich streng nach ihrer Meinung zur Finanzkrise. Muss man die Macken der anderen ertragen, die im Lauf der Jahre sich nicht nur wiederholen, sondern immer mehr hervortreten? Es wäre doch so viel schöner, an den Feiertagen zu Hause zu bleiben, es sich unter dem eigenen Christbaum gemütlich zu machen oder weit weg zu fahren und auf die eigene Verwandtschaft und ihre Eigenheiten zu pfeifen. Natürlich kann man das machen – sich komplett fernhalten von denen, die einen mit zunehmendem Alter immer mehr nerven. Aber man könnte genauso gut andersherum fragen: Warum sollte man die Begegnung mit der lieben Familie vermeiden? Oder mit guten alten Freunden? Was eigentlich erspart man sich dadurch?
Marotten können ziemlich anstrengend sein
Die Achtung vor einem anderen Menschen fängt damit an, dass man seine kleinen Besonderheiten toleriert oder wenigstens ein paar Mal im Jahr einfach nur hinnimmt. Wem das schwerfällt, der könnte gelegentlich darüber nachdenken, ob er oder sie selbst so ganz ohne Eigenheiten ist. Wie war das neulich, als man in der Runde von Freunden zum hundertsten Mal in epischer Breite vom eigenen Faible für „Grey’s Anatomy“ im Fernsehen sprach und die sattsam bekannte Parole ausgab, dass man einmal in der Woche ins Fitnessstudio gehen müsste...? War doch ganz schön, dass die anderen so verständnisinnig zugehört haben.
Marotten können ziemlich anstrengend sein. Aber deshalb den ganzen Menschen abschreiben? Einer Vielrednerin darf man durchaus in die Parade fahren – genauso wie jemandem, der immer nur dasselbe Thema traktiert. Warum nicht sich freundlich zu Wort melden oder entschlossen einen Themenwechsel herbeiführen? Respekt vor einem anderen Menschen bedeutet nicht, ihm oder ihr unkritisch zu begegnen. Im Gegenteil: Wer mich interessiert, wen ich achte, mit dem habe ich Lust zu streiten, mit dem mag ich mich richtig auseinandersetzen.
Verblüffende Familiengeheimnisse
Es schadet auch nicht, sich ab und zu in liebevoller Geduld zu üben, menschlich zu sein vor allem an einem Fest, an dem selbst Gott menschlich wird. Falls Oma Olga erzählt und sich dabei permanent wiederholt, kann das durchaus meditativ sein. Wer genau hinhört, hinschaut auf die kleinen Spleens und großen Ticks, der erfährt manchmal überraschend viel von gut gehüteten Familiengeheimnissen, von tragischen Erlebnissen im Krieg und Erfahrungen, die einen verblüffen und andere im neuen Licht erscheinen lassen. Das geschieht aber nur, wenn man dem Gegenüber genügend Raum und Zeit gibt, sich ungestört zu entfalten.
Wem all das ein zu großer Kraftakt gerade an Weihnachten ist, der kann seine Zeit gelassen aufteilen: in eine, die etwa am Heiligen Abend nur einem selbst und den liebsten Menschen gehört, in der man die eigenen Vorlieben pflegt. Und in eine, vielleicht am ersten oder zweiten Feiertag, in der man sich ausgeruht anderen Menschen mit all ihren Seltsamkeiten widmet. So kann Friede voll gegenseitigem Wohlgefallen entstehen, der weit über Weihnachten hinaus anhält.