Ein wichtiger Hinweis vorab: Der folgende Text handelt von Menschen, die Suizid begangen haben. Falls Sie selbst Suizidgedanken haben, nehmen Sie bitte Hilfe in Anspruch. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar unter 0800-1110111 und 0800-1110222.
Alice und Ellen Kessler sind am vergangenen Montag bei München im Alter von 89 Jahren gestorben. Schon der Umstand, dass die Schwestern – vielen bekannt als die Kessler-Zwillinge – am selben Tag starben, ließ einen Suizid vermuten.
Inzwischen hat die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) bestätigt, dass die Schwestern Mitglieder der DGHS waren. Laut Merkur.de hätten eine Ärztin und ein Jurist ein tödliches Medikament mitgebracht und seien dabei gewesen, als sich Alice und Ellen Kessler dieses verabreichten. Auf ihrer Internetseite listet die DGHS in ihrer Presseschau auch einen entsprechenden Bericht des Bayerischen Rundfunks.
Man kann aber auch sagen: Da wirbt ein Sterbehilfeverein mit dem assistierten Suizid zweier prominenter Frauen für die eigene Überzeugung. Und das ist zynisch, denn am Ende eines assistierten Suizids ist ein Mensch tot. DGHS-Präsident Robert Roßbruch hat dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) ein Telefoninterview gegeben. Der Jurist klingt, als wolle er eine Dienstleistung unter vielen anderen anbieten. Roßbruch argumentiert: Wer bei der DGHS um einen assistierten Suizid bitte, müsse "freiverantwortlich" handeln. Zudem lasse man sich "bei kranken Menschen" die Krankenunterlagen zuschicken und prüfe diese. Fänden sich Anhaltspunkte für eine "psychiatrische Diagnose", würde ein psychiatrisches Gutachten eingefordert. So einfach ist das?
Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil aus dem Februar 2020 klargestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst und man dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückgreifen darf. Seitdem können Sterbehilfevereine wie die DGHS in Deutschland tätig sein. Die Deutungshoheit über die schwierige Frage des assistierten Suizids scheint derzeit bei den Sterbehilfevereinen zu liegen, wie der Fall der Kessler-Zwillinge zeigt.
Das Thema Freiverantwortlichkeit nimmt einen breiten Raum im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 ein. Doch im Urteil finden sich auch wichtige Punkte, die Robert Roßbruch im Interview nicht erwähnt hat. So heißt es beispielsweise: Vom assistierten Suizid "gehen Vor- und Folgewirkungen aus, die erhebliche Missbrauchsgefahren und Gefährdungen für die autonome Selbstbestimmung Dritter umfassen". Ich verstehe diesen Satz so: Es kann ein Sog entstehen, dem sich viele – auch körperlich gesunde – Menschen nicht entziehen können. In einer Krise erscheint der Tod dann als eine Lösungsmöglichkeit von vielen, als Akt der Freiheit.
Spielt der Werther-Effekt keine Rolle mehr?
Ich fürchte, genau das passiert dieser Tage. Viele Medien berichten wohlwollend über den Tod von Alice und Ellen Kessler. "Die beiden gehen, wie sie gelebt haben: selbstbestimmt", heißt es etwa auf Merkur.de. Normalerweise berichten Medien nicht über Suizide, um den sogenannten Werther-Effekt zu vermeiden, der den Anstieg von Suiziden infolge medialer Berichterstattung über Suizidfälle beschreibt. Gilt diese ethisch begründete Zurückhaltung beim assistierten Suizid nicht?
Und noch ein wichtiger Punkt steht im bald sechs Jahre alten Karlsruher Urteil: Dem Gesetzgeber stehe es frei, "ein prozedurales Sicherungskonzept" zu entwickeln. Der Bundestag kann also ein Verfahren beschließen, das das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zwar respektiert, an das sich Sterbehilfevereine aber trotzdem halten müssen. Damit wäre endlich klarer, wie man möglichst sicher sein kann, dass ein sterbewilliger Mensch wirklich freiverantwortlich handelt. Muss dafür immer ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden? Schließlich ist bekannt, dass hinter den meisten Suiziden psychische Probleme stehen. Wer führt und protokolliert die Gespräche, was sind greifbare Kriterien für einen freiverantwortlichen Entschluss? Gibt es verbindliche Fristen zwischen Antrag und Vollzug eines assistierten Suizids, um zu verhindern, dass Menschen in akuten depressiven Phasen ihrem Leben ein Ende setzen?
Ein erster Versuch war im Bundestag gescheitert, ein zweiter ist angedacht, was DGHS-Präsident Roßbruch ablehnt. "Wir halten von der gesetzlichen Regelung überhaupt nichts. Es gibt keine Grauzone, keinen rechtsfreien Raum", sagte er dem MDR aus Anlass des Todes von Alice und Ellen Kessler.
So aber setzen Vereine wie die DGHS ihre Regeln selbst. Sie betonen zwar, sich an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu halten. Es gibt jedoch nicht einmal eine amtliche Statistik, die Auskunft darüber gibt, wie viele Fälle es in Deutschland seit 2020 bis heute gegeben hat. Man muss sich auf die Angaben der Sterbehilfevereine verlassen. Roßbruch selbst spricht für die DGHS von 2200 assistierten Suiziden seit 2020. Die Zahlen anderer Vereine weisen eine steigende Tendenz auf.
Es droht ein weiteres Wachstum, eine weitere Normalisierung – erst recht, wenn prominente Beispiele in den Medien auftauchen. Die Abgeordneten des Bundestags sind daher erneut gefragt, ein verfassungskonformes Schutzkonzept zu finden.



