Vor einigen Jahren habe ich ein Experiment gemacht. Ich habe einen Roman geschrieben, in dem ein junger Ich-Erzähler sein Leben beichtet. Er bittet gleich zu Beginn darum, dass seine Leserinnen und Leser ihm nach der Lektüre schreiben sollen, ob er ein unverbesserliches Arschloch ist oder noch Hoffnung für ihn besteht. Dafür gibt es im Roman die E-Mail-Adresse binicheinegoist@gmail.com.
Viele Leserinnen und Leser haben E-Mails geschrieben, aber dabei selten die Frage des Ich-Erzählers beantwortet. Stattdessen haben sie ihr eigenes Leben gebeichtet. Wir Menschen haben ein Bedürfnis zu beichten, egal ob wir sollen oder nicht. Allerdings haben wir auf der anderen Seite auch ein Bedürfnis, unsere Verfehlungen für uns zu behalten – sie könnten peinlich sein oder es drohen Konsequenzen.
Der Vorteil der E-Mail-Adresse im Roman war wohl, dass die Absender anonym bleiben konnten. Es ging vielen auch gar nicht darum, eine Antwort zu bekommen. Oft begannen die Mails so oder so ähnlich: "Ich weiß gar nicht, ob das hier jemand liest. Das ist mir aber auch egal."
Wer etwas auf dem Herzen hat, der möchte es loswerden. Die Frage ist nur, bei wem und ob man sich wirklich traut, ehrlich zu sein. Denn ehrlich sein ist bekanntlich nicht einfach – auch vor sich selbst.
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