Sie haben ein Buch über eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg geschrieben. Sie schreiben, dass Ihre Mutter entsetzt war, dass Sie als Muslim auf diesen christlichen Pilgerweg gehen wollten. Konnten Sie sie beruhigen?
Sie versteht das bis jetzt nicht. Sie denkt, da läuft mit unserem Sohn etwas schief. Und es gibt gehässige Leute, die sie anrufen und ihr sagen: Dein Sohn hat im Interview etwas Häretisches gesagt. Zum Beispiel, dass Homosexualität gar keine Sünde ist. Da versteht meine Mutter keinen Spaß, und ich muss sie öfter mal anlügen und ihr sagen: Nein, nein, so was würde ich nicht sagen – obwohl ich es eigentlich gesagt habe.
Werden Sie ihr das Buch zum Lesen geben?
Sie kann kein Deutsch. Ich denke immer: Zum Glück können meine Eltern nicht lesen, was ich sage und schreibe, sonst hätten sie sich bestimmt schon längst von mir abgewandt. Es gibt so Tabuthemen: Anerkennung des Staates Israel, Gleichberechtigung von Mann und Frau, dass auch andere Religionen wahre Wege zu Gott sind und eben Homosexualität – über die könnte ich mit ihnen nicht offen reden.
Mouhanad Khorchide
Man erfährt viel über Sie im Buch – auch, dass Sie mit Ihrem Leben hadern.
Ich werde jetzt 53, da kommt eine gewisse Sinnkrise auf. Das Pilgern, aber auch darüber zu schreiben, hat mir persönlich unglaublich viel geholfen.
Sind Sie in der Midlife-Crisis?
Nein. Nicht so, dass ich mich frage, ob ich erfolgreich genug bin und mich beweisen will. Eher: Hat das, was ich da mache, überhaupt Sinn oder belüge ich mich selbst? Worum geht es im Leben? Vor allem: Ich hatte immer das Gefühl, ich muss etwas Großes schaffen, etwa den Islam reformieren.
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Was hat sich durchs Pilgern geändert?
Das Pilgern hat mir gezeigt, dass es auf die kleinen Schritte ankommt. Man geht eine Etappe, und diese Etappe zu gehen, das ist erst einmal das Ziel. Und das reicht auch. Wenn du das Ziel erreicht hast, erst dann entwickle die nächste Etappe.
Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass Sie auf dem Jakobsweg mit vielen Menschen geredet haben, obwohl Sie eigentlich allein sein wollten. Aber es klappt nie …
Es kamen beim Pilgern so viele Fragen auf, die ich einordnen wollte. Und dann bin ich wieder jemandem begegnet, und ich hatte doch wieder das Bedürfnis zu erzählen. Das Schicksal hat es auch gut mit mir gemeint, weil die Menschen so interessant und ihre Geschichten so berührend waren.
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Alle öffnen sich Ihnen sehr schnell. Die Gespräche werden sehr tief.
Es gab auch viele Pilger, die in sich gekehrt waren und auf den Boden geschaut haben – als eine Art Zeichen, dass sie mit niemandem reden wollen. Aber die Mehrheit war schon sehr redefreudig, und mein Vorteil war: Ich bin ihnen entgegengekommen, weil ich den Weg falsch herum gegangen bin.
Wie meinen Sie das?
Richtig wäre, wenn man nach Santiago pilgert. Ich bin aber gleich dorthin geflogen, weil ich dachte, man muss dort um die Kathedrale laufen wie die Pilger um die Kaaba in Mekka. Als ich meinen Irrtum bemerkt habe, bin ich einfach die Strecke in die andere Richtung gelaufen.
Hat sich das nicht merkwürdig angefühlt?
Wenn man in die richtige Richtung läuft, dann hat das einen Nachteil: Man trifft nicht so viele Menschen oder immer nur dieselben. Es kann sogar vorkommen, dass sich irgendwer, den man gar nicht sympathisch findet, sich an die eigene Gruppe hängt und man ihn nicht mehr loswird. Das war für mich leichter, denn ich konnte ja einfach in die andere Richtung davonlaufen. Aber ich würde es beim nächsten Mal doch richtig machen und mir auch die Stempel holen, damit ich das Gefühl habe: Ich habe es richtig gemacht.
Ich habe gelesen, Sie haben dann sogar mit einem Baum gesprochen.
Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich mit Dingen rede: Stift, wo bist du, wir müssen etwas schreiben? Danke, Waschmaschine! Aber keine Angst, ich bin noch bei Sinnen. Und auf dem Jakobsweg war es eher eine Art Gedankenexperiment. Ich wollte wissen: Wie sieht die Welt aus der Perspektive eines Baumes aus? Und ich habe erkannt: Für den Baum sind wir Menschen eine Bedrohung. Diese Gedanken haben mich beim Laufen durch die Natur schon beschäftigt: ob wir nicht immer zu sehr vom Menschen aus denken?
Was ist der größte Unterschied zwischen dem muslimischen und dem christlichen Pilgern?
Beim muslimischen Pilgern ist Mekka das Ziel. Man fährt dorthin, vollzieht alle Rituale, ist dann fertig damit und kann wieder nach Hause fahren. Beim Jakobsweg ist der Weg das Ziel. Die Kathedrale in Santiago mit dem Grab des Heiligen Jakob spielt eigentlich keine große Rolle. Man kann auch sagen: Die Muslime suchen Gott in Mekka, die Pilger auf dem Jakobsweg sind eher auf einer Reise nach innen, zu sich selbst.
Was liegt Ihnen mehr?
Ich würde gerne das Gute von beidem vereinen. Beim nächsten Mal nicht direkt nach Mekka fliegen, sondern ein Stück dorthin laufen und dann nicht nur die Rituale eher mechanisch abarbeiten, sondern mir auch Zeit für mich nehmen. Und auf dem Jakobsweg würde ich meine Gebetskette mehr verwenden, mehr Gebete einbauen, Gespräche mit Gott führen und nicht nur mit den Menschen.
Werden Sie also wieder pilgern?
Ich habe mit einigen meiner Studierenden gesprochen und plane, mit ihnen zusammen zu pilgern. Dann würden wir auch in die richtige Richtung laufen! Am liebsten aber würde ich eine interreligiöse Pilgerreise organisieren. Also mit einer christlich-muslimischen Gruppe auch nach Mekka fliegen. Für Mekka bräuchte man zwar eine offizielle Genehmigung, aber ich glaube, die könnte man bekommen, jetzt, da sich Saudi-Arabien öffnet.
Das Buch "Ein Muslim auf dem Jakobsweg: Pilgererfahrungen der anderen Art" ist im Herder Verlag erschienen. 176 Seiten, 18 Euro.
Gespräch mit Hrn. Khorchide
Das Gespräch hat in seiner offenen ehrlichen Klarheit mir Zuversicht gegeben, dass Muslime wie er helfen in der Breite den toleranten Weg zu finden. Dazu wünsche ich Kraft und ein langes Leben.
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