Sexualisierte Gewalt
"Ich fühlte mich wie Jesus: angespuckt, verraten"
Luise B. hat Übergriffe durch eine Schweizer Ordensfrau erlebt, bei der sie in Therapie war. Hier erzählt sie, was sie von den kirchlichen Verantwortlichen erwartet
Luise B. hat Übergriffe durch eine Schweizer Ordensfrau erlebt, bei der sie in Therapie war
Luise B. im Auto – sie möchte nicht erkannt werden
Michael Gilgen
02.07.2024
8Min

Luise B.* kam 1953 in der Schweiz zur Welt. Nach Schule und Abitur besuchte sie das Oberseminar und wurde Lehrerin. Daneben begann sie, Pädagogik zu studieren, um sich zur Analytischen Psychotherapeutin nach C. G. Jung weiterzubilden. 1995, im ­Alter von 42 Jahren, wurde bei ihr Knochenkrebs diagnostiziert. In dieser Zeit wandte sie sich an eine Ordensfrau, um selbst psychotherapeutisch begleitet zu werden. In den Jahren bis 1998 erlebte Luise B. Übergriffe durch diese Ordensfrau, die bei ihr auch eine Invalidität verursachten. Dank eines gelungenen Arbeitsversuchs kann sie sich seit ­einigen Jahren wieder ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie arbeitet als Psychotherapeutin in eigener Praxis und ist als schulische Heilpädagogin tätig.

Im Jahr 2000 hat Luise B. ein standesrechtliches Verfahren gegen die Ordensfrau bei der Beschwerdekommission des zuständigen Verbands der Psychotherapeutinnen und -therapeuten in der Schweiz angestrengt. In diesem Verfahren wurde erkannt, dass die Ordensfrau die Standesordnung des Verbands verletzt hatte: den verantwortlichen Umgang mit psychotherapeutischen ­Methoden sowie "Persönliche Verstrickung (Überengagement, ­Umgang mit Grenzen)", wie es im Bescheid heißt. Die Ordensfrau musste sich einer mindestens dreijährigen Therapie unterziehen und die Verfahrenskosten tragen. Sie ist mittlerweile verstorben.

chrismon: Was haben Sie erlebt?

Luise B.: Meine Abhängigkeit ist ausgenützt worden. Ich hatte meiner Therapeutin meinen innersten Kern, die ­Seele, offenbart. Sie war eine gläubige Frau, eine Nonne – das macht für mich bis heute einen Unterschied. Ich hatte den Bezug zu Gott gesucht. Ich suchte Seelsorge in meinen Problemen: dass die Seele Raum bekommt und ich mich öffnen kann. Und das habe ich zunächst auch so erlebt. "Die versteht mich!", habe ich oft empfunden. Sie hatte darin eine unglaubliche Fähigkeit. Ich habe auf diesem Hintergrund meine Abwehrmechanismen aufgegeben.

Wie wurde aus dem Gefühl, verstanden zu werden, ein Übergriff?

Sie hat begonnen, mich zu manipulieren. Hat mir nachtelefoniert, Briefe geschrieben, immer öfter, sie hat sich unentbehrlich gemacht. Als ich wegen meines Knochentumors im Spital war – man musste mir einen Finger amputieren –, hat sie mich auch dort begleitet, war beim Aufwachen dabei. Auf einmal war sie omnipräsent. So wurde die Therapie immer näher, immer "verstrickter" . . . Ich hatte auch noch nie einen Menschen erlebt, der meine Seele so erkannt hat. Ich habe mich geöffnet, bis ich völlig wehrlos war. Eines Tages schloss sie während unserer Sitzung einfach die Tür von innen ab.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Man sagt dazu "Doppeldenk": Ich nahm wahr, dass etwas komisch ist, und fragte "Warum schließt du die Tür?" – "Ja, weißt du, der Mann könnte hereinkommen, der ist nicht zurechnungsfähig." Tatsächlich hörte ich immer ­wieder so ein Poltern. Oben in dem Klostergebäude lebte nämlich ein Mann, der oft unruhig war. So gab eins das andere. Plötzlich hat sie sich neben mich gesetzt. Sie wusste, dass ich mich schon mit 17 in eine Mitschülerin verliebt hatte und dass das damals, in den 1970er Jahren, noch ein Außenseiterthema gewesen war.

Möchten Sie erzählen, wie es weiterging?

Ja. Wir haben dann eine private Beziehung begonnen. Sie hat das "Neudefinition" genannt. Sie hatte eine Erklärung, wie wir jetzt die Nähe ins Private hinein neu definieren sollten. Als später alles eskaliert ist, erinnere ich mich, wie sie einmal sagte: "Das ist alles so geworden, weil ich dich liebe."

Diese Frage ist heikel, dennoch will ich sie mit aller ­Vorsicht stellen: Warum haben Sie das mit sich machen lassen?

Das habe ich mich auch oft gefragt, vor allem hinterher. Ich kann nur sagen: Ich konnte keinen Widerstand mehr leisten. Ich habe mich immer wieder gefragt: Weshalb? Auch als sie körperlich immer näher kam, Schritt um Schritt: Was ist das? Ich konnte es nicht benennen . . . und das ist ein Merkmal solcher Übergriffsituationen: Man nimmt sie als Übergriff wahr, kann sich aber nicht distanzieren und nicht wehren. Ich habe keinen "Ich-Kern" mehr gehabt, keine Grenze mehr gespürt, die Therapeutin hat mich emotional besetzt und so über mich bestimmt.

chrismon Spendenabo doppeltgut
doppeltgut
Digitales Spendenabo abschließen und weiterlesen

4 Wochen gratis testen, danach mit 10 € guten Journalismus und gute Projekte unterstützen.
Vierwöchentlich kündbar.

Infobox

Anlaufstellen in Deutschland

Die katholische Kirche veröffentlichte 2018 die MHG-Studie, die für den Zeitraum von 1946–2014 deutschlandweit 3677 Opfer und 1670 beschuldigte ­Kleriker ausfindig machte. Mittlerweile haben viele katholische Bistümer ­weite­re Studien durchführen lassen. Die Evangelische Kirche in Deutschland stellte im Januar 2024 die ForuM-Studie vor, die von mindestens 2225 Betroffenen und 1259 Beschuldigten für die evangelische Kirche und Diakonie von 1946–2020 ausgeht. Betroffene können sich an die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung wenden, https://beauftragte-missbrauch.de, telefonisch: 0800–22 55 530 – oder an die Telefonseelsorge: 0800–11 10 222.