Straßenverkehr
Städte sind für Menschen da, nicht für Autos
Ein alter Mann fährt mitten in Berlin Mutter und Kind tot. Warum wir solche Nachrichten nicht mehr als tragischen Unfall abtun sollten und welche Lehren die Politik daraus ziehen kann, schreibt Nils Husmann in seinem Kommentar
Mann überfährt Frau und Kind in Berlin: Städte müssen sicherer werden
Ein Mann hat Frau und Kind in Berlin überfahren: Sind Städte zu unsicher?
picture alliance/Christophe Gateau
Tim Wegner
12.03.2024
3Min

Sie waren aus Belgien nach Berlin gereist und wollten sich die Stadt ansehen: Ein Paar mit seinem vier Jahre alten Kind, die Mutter hatte ihre Schwester dabei. Zwei von ihnen haben diese Reise nicht überlebt. Mutter und Kind wurden totgefahren, am vergangenen Samstag, mitten in Berlin, auf der Leipziger Straße.

Ein tragischer Unfall, ein Drama? Diese Worte liest man oft, wenn Fußgänger oder Menschen auf dem Rad im Straßenverkehr sterben. Aber sie verschleiern das eigentliche Drama: Sehr viele Tote unter den sogenannten schwächeren Verkehrsteilnehmern wären vermeidbar. Und damit unfassbar viel Leid. Doch stattdessen sterben sogar wieder mehr Fußgänger und Radfahrer auf den Straßen, das hat das Statistische Bundesamt im Februar erst mitgeteilt.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Was wissen wir über das Unglück vom Samstag? Die Berliner Polizei hat es in der Meldung mit der Nummer 0522 notiert: Ein 83 Jahre alter Mann fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit die Leipziger Straße in Richtung Potsdamer Platz entlang. Der Verkehr stockte, der Mann wich auf den "Radfahrschutzstreifen" aus, auf den Radweg also. Die Mutter, 41 Jahre alt, überquerte mit ihrem Sohn die Straße. Der Fahrer verletzte beide mit seinem Auto so schwer, dass sie später starben. Fotos vom Unfallort lassen erahnen, dass der Unfallverursacher viel zu schnell und mit großer Wucht unterwegs war. Viele Augenzeugen blieben schockiert zurück, unter ihnen der Mann und Vater der beiden Opfer sowie die Schwester. Seelsorger kümmerten sich um sie.

Weitere Details müssen sich klären, aber es gibt Gründe, warum man nicht immer mit Kommentaren warten sollte, bis alles ausermittelt ist. Ins Auge fallen drei Dinge: Der Unfallverursacher ist 83 Jahre alt, er fuhr zu schnell und meinte, auf einen Radweg ausweichen zu müssen, auf dem er mit dem Auto nichts zu suchen hatte.

Es ist unklar, ob das Alter des Mannes allein den Unfall erklärt. Aber wir wissen: Wenn ältere Menschen (65 und älter) als Fahrerin oder Fahrer in einen Unfall verwickelt sind, trugen sie im Jahr 2021 in mehr als zwei Dritteln der Fälle die Hauptschuld; unter den mindestens 75-Jährigen sind es sogar 75 Prozent. Trotzdem lehnt Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) regelmäßige Prüfungen und Untersuchungen ab, mit denen ältere Menschen nachweisen müssen, ob sie ein Auto noch sicher und verantwortungsbewusst lenken können. Seine Begründung: Der bürokratische Aufwand sei zu hoch. Das ist absurd. Wer fahren möchte, stellt sich regelmäßig einer Untersuchung – sonst ist der Führerschein weg. Wo ist da der Aufwand?

Radwege oft ungesichert

Punkt zwei, der Radweg. In Deutschland wirken Radwege oft wie liebloses Beiwerk, ruckzuck auf die Straße gepinselt. Es gibt selten Poller oder Erhebungen, mit denen Radwege abgegrenzt werden von den Autospuren. Sehr oft kreuzen abbiegende Pkw und Lkw die Radspuren, das ist gefährlich. In Paris sieht das mittlerweile ganz anders aus. Eine klare Trennung von Auto- und Radspur hätte den Mann wohl davon abgehalten, auf den Radweg zu fahren.

Lesen Sie hier gute Beispiele, wie Städte sicherer für Fußgänger und Radlerinnen werden können

Punkt drei, die Geschwindigkeit. Der Mann, der Mutter und Kind totfuhr, fuhr offenbar viel zu schnell. Das sagen Zeugen. Aber zu schnell zu fahren gilt in Deutschland immer noch als Kavaliersdelikt. Vor Blitzern wird im Radio gewarnt, manche installieren sich auch einen – illegalen – Radarwarner im Auto. Flächendeckend Tempo 30 in Städten durchsetzen? Viele Kommunen wollen es, aber es klappt meistens nur im Ausland. In Deutschland gilt das als Eingriff in die persönliche Freiheit.

Würden Mutter und Kind noch leben, wenn es Fahrtests für Senioren, eigene, baulich abgetrennte Radwege oder schärfere Strafen für Raser gäbe? Wir wissen es nicht. Aber es ist sehr wahrscheinlich. Und das zu schreiben, ist das eigentliche Drama: Es könnte besser sein. Fast 13 Millionen Menschen in Deutschland haben keinen Führerschein. Städte sind für Menschen da, nicht für Autos. Das muss die Politik endlich begreifen.

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Ich muss zugeben, dass ich auch seltsame Gefühle bekomme, wenn ich erfahre, dass ein Unfallverursacher über 80 Jahre alt ist. In diesem Fall ist das meiner Meinung nach aber nicht der Grund für die Katastrophe. An den Schäden ringsum war ja deutlich zu erkennen, dass der Fahrer wohl sehr schnell unterwegs war und über den Radweg einem Stau ausweichen, ist auch nur verboten und eine gefährliche Unverschämtheit, aber nicht altersabhängig. Ich freue mich, dass der Fahrer nur wenig verletzt ist, damit er die Konsequenzen dieser Fahrt erleben muss.
Bei mir fast vor der Tür wurde vor einem halben Jahr eine Frau an einer Ampel tot gefahren, weil der Fahrer bei Rot fuhr - er war noch nicht so alt und ich bin selbst hier schon zweimal fast an der Ampel überfahren worden, weil Autofahrer, wenn für sie die Ampel rot wird, noch Gas geben und rüber fahren. Meiner Meinung nach helfen nur bauliche Veränderungen, die die Autofahrer zwingen, langsam zu fahren und Poller oder ähnliches, um Rad- und Gehwege vor Autos zu schützen. Geschwindigkeitsbegrenzungen nützen da wohl nicht viel. Wer die im Stadtgebiet erlaubten 50 km/h deutlich überschreitet, würde sich wohl auch nicht an 30 km/h halten.

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Keine Frage, das Alter ist ein Problem. Die Raserei von Enthemmten auch. Ein Schnaps tut es auch. Das Radio lenkt auch ab. Die Altersbeschwerden (Schwindel, Konzentrationsschwächen) fangen bei einigen schon mit 60 an. Im LKW sind TV, Essen und Kochen üblich. Cannabis kommt dazu. Sind dann noch 20 - 40 % optimal fahrfähig? Es bestehen Zweifel.