Nidal*, 23:
Ich wollte immer weg aus Saudi-Arabien. Ich hoffte, die Kette um meinen Hals würde sich lösen, wenn ich nur ins Ausland könnte. Seit zwei Jahren studiere ich in einem europäischen Land. Aber ich werde zurückkehren müssen.
Meine Eltern sind konservativ, aber nicht besonders religiös. Ihnen ist wichtig, was die Leute denken, aber zu Hause oder in unseren Urlauben in dem südasiatischen Land, aus dem meine Mutter kommt, konnten wir offener reden und uns freizügiger kleiden. Meine Eltern haben geheiratet, weil es für beide Vorteile hatte. Meine Mutter kommt aus einer armen Familie, sie suchte nach Sicherheit, mein Vater wollte eine schöne junge Frau.
Weil ich aussehe wie meine Mutter, eher asiatisch als arabisch, galt ich schon im Kindergarten als anders, obwohl ich aus einer angesehenen Familie komme. In Saudi- Arabien leben und arbeiten viele Menschen aus Südasien, sie haben weniger Rechte als Saudis und werden als minderwertig angesehen. Ich wurde bis zur Mittelschule wegen meines Aussehens gemobbt. Die Erfahrung, sowieso nicht dazugehören zu können, hat mich kritisch gegenüber den herrschenden Normen gemacht.
Als ich elf, zwölf war, trendeten die ersten Videos von Loujain al-Hathloul, einer Aktivistin für Frauenrechte. Ich war fasziniert, aber damals dachte ich noch, dass die Ungerechtigkeiten in Ordnung wären. Obwohl sich die ungleiche Behandlung von Frauen tief in meinem Inneren nie richtig angefühlt hatte. Zum Beispiel, dass Frauen bis vor kurzem einen männlichen Vormund brauchten, wie Minderjährige. Ich habe dann viel gelesen. Die Opposition findet in den sozialen Medien statt, unsere einzige Waffe.
Ich bin bisexuell
Mit 14, 15 ist mir bewusst geworden, dass ich bisexuell bin. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich mir nicht vorstellen kann, dauerhaft in Saudi-Arabien zu leben. Eine Frau könnte ich dort nur im Hyperprivaten lieben. Aber ich muss zurück, mindestens für eine Weile, weil ich mich gegenüber Geldgebern dazu verpflichtet habe. Ich hoffe, dass ich später, wenn meine Schulden abgegolten sind, einen Job in Europa finde.
Seit Kronprinz Mohammed bin Salman regiert, hat es Änderungen gegeben. Frauen dürfen jetzt reisen, Auto fahren und auch allein in einer Wohnung wohnen. Aber meiner Einschätzung nach ist vieles nur für das Ansehen Saudi-Arabiens im Westen gemacht worden. An der extrem frauenfeindlichen Haltung der Menschen hat sich nichts geändert, auch nichts an der Klassengesellschaft, in der männliche Saudis aus den richtigen Familien am höchsten stehen und weibliche Arbeitsimmigranten am niedrigsten. Und öffentliche Kritik an der Regierung ist immer noch lebensgefährlich.
Ich erinnere mich noch gut an die ersten Tage nach der Ankunft in Europa. Freiheit, das war für mich damals das Gefühl des Windes, der durch meine Haare weht. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, mussten wir einen Gesichtsschleier tragen, wenn wir nicht beleidigt oder belästigt werden wollten. Natürlich ist für mich Freiheit mehr, als tragen zu können, was ich will. Ich sehe große Ungerechtigkeiten hier: Menschen, die sich entweder Essen kaufen oder ihre Stromrechnung bezahlen können. Freiheit muss entwickelt werden, überall. Frauenfeindlichkeit ist weniger offensichtlich, aber ich erlebe sie auch hier.
Kritik wird geahndet
Schmerzlich für mich ist, dass ich selbst hier nicht offen protestieren kann. Ich engagiere mich für Klimaschutz und für soziale Gerechtigkeit, aber mir bleibt nur unterstützende Arbeit im Hintergrund. Die saudische Regierung ahndet jede Form von Kritik, auch im Ausland. Loujain al-Hathloul, die Aktivistin, die ich so sehr bewunderte, saß drei Jahre im Gefängnis, vermutlich wurde sie gefoltert. Eine Doktorandin, die wie ich im Ausland lebte, wurde vor einem Jahr während eines Heimatbesuchs zu jahrelanger Haft verurteilt – wegen Tweets zu Frauenrechten.
Ich muss sehr vorsichtig sein. Selbst wenn ich es schaffe, eines Tages dauerhaft in Europa zu leben, werde ich bei meinen Äußerungen die Willkür der saudischen Regierung berücksichtigen müssen. Es sei denn, ich breche mit meiner Familie und reise nie wieder in mein Heimatland. So, wie ich hier stehe, bin ich nicht frei. Die Kette um meinen Hals ist, seit ich in Europa lebe, deutlich leichter geworden, mittlerweile sitzt sie auch lockerer. Aber sie ist immer noch da.
Protokoll: Sophie Pausch
* Name zum Schutz der Person geändert