Ohne Gebet ist Lamine Gueye tagsüber nicht in Form, sagt er. Ohne Gebet verlässt er nie das Haus. Wenn der Muezzin früh um halb sechs ruft, hat sich Lamine Gueye, 31, sein Gewand übergestreift, Hände, Kopf und Füße gewaschen und die Gebetsmatte zwischen dem Bett der Mutter und der Schlafmatte der Schwester in Richtung Mekka ausgerollt.
Derzeit muss Lamine Gueye besonders gut in Form sein. Er ist Reporter beim Lokalradio Oxyjeunes in Pikine, einer Vorstadt von Dakar mit 1,5 Millionen Einwohnern. Der Sender macht neuerdings Stimmung gegen die Auswanderung übers Meer. Lamine Gueye ist für die Sendereihe zuständig. Er berichtet über Flüchtlinge, fragt Passanten auf der Straße und moderiert Debatten über die "heimliche Auswanderung". So nennen sie im Senegal den Versuch, mit Holzbooten übers offene Meer auf die Kanarischen Inseln zu schippern. Nicht aus Verzweiflung. Sondern weil sie ehrgeizig sind. Sie wollen den Wohlstand, den sich schon ihre Brüder und Nachbarn in Europa verdienten: Auto, Haus, Geld für eine eigene Familie.
Auf Sendung
Lamine Gueye: 15 Uhr 40 im Studio von Radio Oxyjeunes für Pikine und Dakar auf 103,4. Heute geht es wieder um die heimliche Auswanderung. Bei mir im Studio: Mbaye Sène, der acht Jahre in Europa gelebt hat. Mbaye Sène, wie ist es für einen Senegalesen, der in Italien oder Spanien ankommt?
Der Heimkehrer: Um die Wahrheit zu sagen: Mein erstes Gefühl in Europa war Enttäuschung.
Lamine Gueye: Warum?
Der Heimkehrer: Im Senegal denkst du, Europa ist das Eldorado, das Paradies auf Erden. Aber als ich 1997 in Venedig ankam, dachte ich, ich würde dort niemals meinen Platz finden.
Lamine Gueye: Wie sind Sie dahin gekommen?
Der Heimkehrer: Ein Bruder und Cousins waren schon da.
Lamine Gueye: Wie lange dauerte es, Arbeit zu finden?
Der Heimkehrer: Neun Monate. Ich kam im Winter an, bei minus drei Grad. Arbeit zu finden, hängt von vielem ab. Am Anfang ist es schon wegen der Sprache schwierig. Du kannst dich mit keinem unterhalten. Ich hatte keine Papiere.
Lamine Gueye: Nun besitzen Sie ein Haus. War es das wert?
Der Heimkehrer: Ich war immer drauf und dran, zum Flughafen zu laufen und zurückzufliegen. Zuhause sind die Geschwister, meine Familie. Ich habe Tag und Nacht an den Senegal gedacht.
Der Reporter wollte selber weg
Bis Radioreporter Lamine Gueye 25 Jahre alt war, wollte er selbst auswandern, legal mit einem Studentenvisum. Aber dafür reichten die Noten nicht. Weil er nicht weiß, wie er jemals das Geld für eine Hochzeit und eine eigene Familie zusammenbekommen soll, wohnt er noch bei seiner Mutter, seinen Schwestern und Nichten hinter der sandbraunen Mauer schräg gegenüber der Moschee. Zu zehnt auf 40 Quadratmetern. Im hellblau getünchten Haus schauen sich die Nichten schon am Vormittag französische TV-Soaps an, fasziniert vom Liebeskummer blonder Frauen in modern eingerichteten Pariser Wohnungen.
Eine andere Schwester lernte im Frühjahr einen weißen Franzosen kennen und heiratete ihn. Es ging schnell, dann war sie weg in Europa. Der Bruder war schon vor zehn Jahren zum Landwirtschaftsstudium nach Belgien gezogen, mit einem senegalesischen Stipendium, aber auch er blieb, in Belgien.
Bei Lamine Gueyes Nachbarn parkt ein silbergrauer Mercedes-Benz: "Der Sohn, zu Besuch aus Deutschland." Über die Sandpisten im Lehmhüttenmeer läuft der Radioreporter zur geteerten Hauptstraße. An der Ecke, dort, wo seine frühere Schule steht, verkauft eine zahnlose Frau Hölzer zum Zähnereinigen, jemand preist afrikanische Heilkräuter an, die einzig bezahlbare Medizin.
Bevor Lamine Gueye fürs Radio arbeitete, organisierte er Ferienturniere für seine fußballverrückten Landsleute. Mit Spielern aus Pikine, die auch für die nationale Liga spielen. In diesem Jahr trat die Mannschaft aus dem Stadtteil Thiaroye nicht an. Zu viele Spieler waren mit Holzbooten unterwegs Richtung Kanaren.
Die Sendung geht weiter
Lamine Gueye: Radio Oxyjeunes auf 103,4. Bei uns ist der Leiter des Jugendheims in Thiaroye-sur-Mer, einem stark betroffenen Stadtteil. Schon immer gab es bei uns Auswanderung, aber nie so viel wie heute. Was treibt die Jugend fort?
Der Jugendheimleiter: Die totale Perspektivlosigkeit. Das muss mal gesagt werden. Vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 hat Abdoulaye Wade gefragt: "Wer hat keine Arbeit?" Die Jugend rief: "Ich, ich, ich habe keinen Job!" Seit Abdoulaye Wade Präsident ist, hat sich nichts geändert. Auswanderung gab es immer, aber seit 2006 ist sie unkontrollierbar geworden. Das ist die Schuld der Regierung, das muss mal gesagt werden.
Lamine Gueye: Nehmen die Senegalesen den Weg übers Meer, weil sie keine Visa bekommen?
Der Jugendheimleiter: Genau. In die USA kommt man leichter. 2000 war ich legal in den USA. Versuchen Sie mal, so nach Europa zu kommen: wahnsinnig schwer! Stellen Sie sich vor, jemand bezahlt viel Geld fürs Visum, reicht alle Dokumente bei der Botschaft ein: Man verweigert ihm trotzdem das Visum! Er ist frustriert! Das müsste viel besser organisiert sein.
Der Bürgermeister hört zähneknirschend zu
Das Radio bekommt sein Geld von westlichen Entwicklungshilfeorganisationen. Ein kanadischer Sponsor finanzierte zudem ein Gebäude für die Stadtverwaltung unter der Bedingung, dass hier auch der Lokalsender unterkommt. So muss der Bürgermeister zähneknirschend zuhören, wie das Radio darüber berichtet, dass die Stadt die Bauarbeiter an der Bahnlinie nicht auszahlt. Warum der Müll auf den Straßen liegen bleibt. Warum Aids eine gefährliche Krankheit ist. "Ich warte nicht, bis der Gesundheitsminister den Leuten sagt: Nehmt Kondome, um euch gegen Aids zu schützen. Ich sage es lieber selbst", sagt einer der Gründer von Oxyjeunes. 1999, im ersten Jahr des Senders, hatte es sechs Gründer gegeben. Dann tauchte einer bei einer Fortbildungsreise in Italien unter. "Geldprobleme", heißt es.
Lamine Gueye ist seit Juni 2005 dabei. Ein Redakteur hatte ihn gefragt, ob er nicht mitmachen wolle. Das Radio sei eine gute Schule zur persönlichen Bildung, sagt Lamine Gueye. Im März 2006 bat ihn der Programmdirektor, eine Sendereihe über die heimliche Auswanderung zu leiten. Warum Lamine Gueye? "Er hat das intellektuelle Niveau und den Kontakt zu den Leuten", sagt der Direktor. "Er kennt ihre Probleme."
Weiter im Interview
Lamine Gueye: Im Sender ist Mbaye Sène, der acht Jahre in Europa gelebt hat. Was sagen Sie Jugendlichen, die, koste es, was es wolle, nach Europa aufbrechen: Wie ist das Leben dort?
Der Heimkehrer: Im Senegal bleiben ist schwer. Aber es ist noch schwerer, den Leuten zu sagen, sie sollen nicht emigrieren. Sie fragen: Warum soll ich bleiben? Aber in Europa ist eine Krise. Die Arbeitsbedingungen sind schwierig. Bis in die Neunziger war es schon schwer, Arbeit zu finden. Und seit Osteuropa seine Grenzen geöffnet hat, ist es für uns Afrikaner noch schlimmer geworden.
Lamine Gueye: Meinen Sie damit: Manche schaffen es bis Europa, aber sie finden keine Arbeit?
Der Heimkehrer: Wie die Europäer sagen: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Was ich sagen will: Wer nach Europa will, sollte sich ein Visum besorgen. Und nicht den Weg über das Meer nehmen.
Die Tür zum Sender steht offen.
Durch den acht Meter langen Flur weht ein kühler Luftzug. Am Ende des Ganges wartet ein Mann mit dünnem Kinnbart auf einer Holzbank. Im Ohr steckt ein drahtloses Headset für sein Mobiltelefon. "Sekane Fall", stellt er sich mit gurgelnder Bassstimme vor, "ich sollte in den Sender kommen." "Waren Sie auf dem Boot, das es nicht auf die Kanaren geschafft hat?", fragt Lamine Gueye. Der andere nickt.
Lamine Gueye führt den Mann durch eine Holztür ins klimatisierte Aufnahmestudio. Abgedunkelte Fenster, stoffbespannte Holztrennwände, ein runder Tisch mit Mikrofonen. Aus den Kopfhörern tönt der Näselgesang der Sängerin Kine Lam: Mbalakh, afrikanischer Pop. Durch eine verschmierte Scheibe gibt die Tontechnikerin das Handzeichen. Das Interview beginnt.
Sekane Fall erzählt von seinen Brüdern. Einer floh über Marokko auf die Kanaren und fährt jetzt in Spanien Lkw. Einer setzte von Tunesien nach Italien über und ist Fabrikarbeiter. Seine Schwester bekam ein Visum für Spanien und arbeitet legal als Friseurin. Und Sekane Fall erzählt von den eigenen Fluchtversuchen. Wie Marokkaner für ihn und andere Senegalesen ein Boot zimmerten. Es war undicht, die Flucht scheiterte, umgerechnet 1000 Euro waren futsch. Im Februar 2006 hörte er, dass in Spanien brasilianische Plantagenarbeiter streikten. Er dachte: "Die Spanier brauchen uns." Den Marokkanern traute er nicht mehr. Mit 81 Leuten stach er im Norden des Senegal in See. Fünf Tage sollte die Fahrt dauern, nach einer Woche ging der Sprit aus, 300 Kilometer vor den Kanaren. Sekane Fall legte sich ins Boot, schloss mit dem Leben ab. Am elften Tag rettete die marokkanische Küstenwache die Flüchtlinge und wies sie nach Mauretanien aus.
Nachmittags verabredet sich Lamine Gueye mit Sekane Fall im Armenviertel Thiaroye. Er sucht Stoff für weitere Sendungen, und die Geschichte von Sekane Fall könnte da ergiebig sein. Zusammen hören sie sich im Kofferradio die heutige Debatte an.
Fragen an den Stadtentwickler
Lamine Gueye: Frage an den Vorsitzenden der Stadtentwicklungsinitiative SOS-Vorstadt, Ousmane Boye: Wer hält die Jugend zurück?
Der Stadtentwickler: Wo ist der Staat verantwortlich, wo die Bevölkerung? Es gab Eltern, die ihr Haus verkaufen wollten, damit ihre Kinder nach Europa aufbrechen. Die Rechnung geht nicht auf! Die Jugendlichen verlassen Thiaroye mit Pirogen. Eine Piroge kann niemanden in den Norden bringen, unmöglich!
Der Jugendheimleiter: Natürlich geht es!
Der Stadtentwickler: Nein!
Der Jugendheimleiter: Viele sind schon da. Sie sind auf Pirogen los und haben von Europa aus ihre Familien angerufen!
Der Stadtentwickler: Sie sind gar nicht in Spanien. Sie sind auf den Kanaren!
Lamine Gueye: Das ist Spanien, mein Lieber, das ist Spanien!
Der Stadtentwickler: Aber wie viele haben es nicht geschafft? Die Jungen müssen wissen: Ihr riskiert euer Leben. Und wer in Europa ankommt, scheitert. Ein winziger Teil schafft es. Die meisten leben unter Bedingungen, die sie sich nicht vorgestellt haben.
Der Jugendheimleiter: Mal ehrlich: Ist es wirklich besser, 500 000 CFA-Francs (rund 762 Euro) im Senegal zu investieren als in die Flucht? Mit dem, was ich in den USA verdiente, habe ich hier ein Geschäft gegründet. Das Geschäft hier wirft lächerlich wenig ab im Vergleich zu dem, was ich in den USA bekam. Mit dem Gewinn kann ich nicht mal meine Familie versorgen.
Eine Begegnung am Strand
Thiaroye liegt am Meer. Eselskarren, Telefonläden, ein Verschlag, davor ein Krankenwagen, gestiftet von einer Gemeinde in Italien. "Man bekommt zu essen, hat einen Ort zum Schlafen", sagt Sekane Fall. "Aber: Ich habe keine Arbeit, ich kann nichts Eigenes aufbauen, nicht heiraten." Das Zimmer im Haus seiner Mutter ist zwölf Quadratmeter groß. Bett, Sessel, Anrichte mit Fernseher, ein Computer mit Internetanschluss. An der Wand hängt ein Zeugnis der "Kreditanstalt für Wiederaufbau": Sekane Fall hat in einem Entwicklungsprojekt gearbeitet. Nach einem halben Jahr zahlten die afrikanischen Partner das Gehalt nicht mehr aus. Damals beschloss Sekane Fall, das Land zu verlassen.
Sekane Fall sagt, er kenne über hundert Leute, die aus Thiaroye abgehauen seien, von denen er nie wieder etwas gehört habe. Wenn man sich auf seinem Balkon vorbeugt, sieht man ein weiß getünchtes Haus, davor ein silbergrauer Seat. "Aus dem Haus ist auch einer ertrunken", sagt Sekane. Woher der Seat kommt? "Der Bruder ist zu Besuch aus Europa. Der hat es geschafft."
Sekane Fall geht mit Lamine Gueye an den Strand. Ein Mann springt ihnen entgegen. "He, weißt du noch?", ruft er. Es ist Mbaye, er war mit im Boot Richtung Kanaren. Mbaye kauft Fische von den Fischern und verkauft sie auf dem Markt. Aber seit die EU-Fangflotte die Küstengewässer leergefischt hat, lohnt sich das Geschäft nicht mehr. "Mit der nächsten Piroge bin ich weg. Lieber auf dem Boot sterben, als so leben." Ob er vergessen habe, wie es war, als der Sprit ausging und die Leute verrückt spielten, schrieen, ins Wasser sprangen, Salzwasser tranken? Mbaye zeigt auf sein T-Shirt, auf dem das Bild eines senegalesischen Religionsführers prangt, gestorben 1922. "Ich habe gesagt: Hadj Malick Sy, wenn du ein Mann Gottes bist, komme ich wieder an Land." Er kam an Land. "Nächstes Mal ist Hadj Malick Sy mit an Bord." "Die Hoffnung ist winzig klein", sagt Lamine Gueye. Er hält Zeigefinger und Daumen einen Zentimeter auseinander: "Das reicht, um das Leben aufs Spiel zu setzen." "He, du vom Radio: Sag den Leuten in Europa, dass es möglich sein muss, ein Visum zu bekommen", sagt Mbaye. Er will hin, um jeden Preis.
"Wir müssen über das Problem reden!"
Lamine Gueye: Spanien fordert die senegalesische Regierung auf, die Menschen auf den Pirogen abzufangen. Ousmane Boye, Vorsitzender der Initiative SOS-Vorstadt: Finden Sie das richtig?
Der Stadtentwickler: Ja. Hier geht es nicht um europäische Immigrationsprobleme, sondern um das Überleben eines Teils der afrikanischen Bevölkerung. Die Jugend ist der Schlüssel für die Entwicklung Afrikas. Wie viele seiner Söhne hat Afrika schon verloren? Was ist bei uns schiefgelaufen, dass es so weit kommen konnte?
Am späten Nachmittag ist Lamine Gueye wieder daheim. Sekane Fall hat versichert, dass er keine Piroge Richtung Kanaren mehr besteigt. Er empfinde Genugtuung über den Gesinnungswandel, sagt Lamine Gueye und fügt an: "Wir müssen über das Problem reden. Das Radio ist, was früher im afrikanischen Dorf der Baum war, unter dem sich die Leute zum Reden versammelten." Für ihn ist der Arbeitstag vorbei. Der Muezzin ruft zum Gebet. Lamine Gueye betritt daheim das blau gestrichene Haupthaus, wo seine Nichten fernsehen: CNN-Nachrichten aus dem Irak. Er wäscht Hände und Füße und streicht mit der nassen Hand über den Kopf. Dann breitet er seine Gebetsmatte aus.
Mehr als 25000 Flüchtlinge aus Nordafrika haben 2006 die Kanarischen Inseln erreicht, fast alle gingen im Senegal an Bord eines Bootes. Allein am ersten Septemberwochenende waren es 1400. Das Internationale Rote Kreuz schätzt, dass bis zu 3000 weitere Flüchtlinge bei der 2500 Kilometer langen, etwa zehn Tage dauernden Hochseefahrt ums Leben kamen. Auf den Kanaren wurden etwa 500 Leichen angespült.
Senegalesen aus den Küstengegenden können eine Überfahrt selbst organisieren. Sogenannte Schlepper brauchen sie nicht. Oft tun sich junge Leute aus einem Stadtteil oder Dorf zusammen und kaufen sich zu überhöhten Preisen ein Boot. Hochseeerfahrene ehemalige Fischer bringen das Boot auf hohe See, sie wissen die Küstenwachen Mauretaniens und Marokkos zu meiden.
Inzwischen unterbinden die spanische und die marokkanische Küstenwache die Flucht über das Meer.