Bei der Hochwasserkatastrophe sind 180 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden verletzt, Tausende Häuser sind zerstört worden.
Paul Ngahan: Allein im Ahrtal sind 8998 Gebäude beschädigt worden, das hat man festgestellt, als man das Gebiet nach der Flut aus der Luft unter die Lupe genommen hat. Aber ich als Energieexperte konnte nur mit dieser Zahl allein noch nichts anfangen.
Warum nicht?
Mein Fachgebiet ist die Wärmeversorgung. Wie heizen Menschen, wie erwärmen sie ihr Wasser? In der Gegend, in der die Flut ihren Anfang nahm, waren oft nur Keller vollgelaufen. Die ließen sich relativ schnell wieder reparieren. In anderen Gebieten, flussabwärts, waren ganze Häuser zerstört.
Wie wussten Sie, wo Hilfe gebraucht wird?
Ich war eine Woche nach der Katastrophe zum ersten Mal im Ahrtal. Es herrschte Chaos. Wir haben erst mal Strukturen geschaffen, alle Menschen, die mit Wärme und Energie zu tun haben, an einen Tisch gebracht - vom Schornsteinfeger bis zur Verbraucherzentrale, vom Kommunalpolitiker bis zum Handwerker. Schließlich sind wir gemeinsam mit Jens Neumeister, Professor an der Hochschule Trier, und mit der Unterstützung der ADD, der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion in Rheinland-Pfalz, mit 100 Frauen und Männern durch die betroffenen Orte gegangen, den gesamten August 2021 hindurch.
Paul Ngahan
Nils Husmann
Was wollten Sie herausfinden?
Wir hatten einen Fragebogen entwickelt, um zu ermitteln, was die Menschen brauchen: Ist die ganze Heizung zerstört, lässt sie sich reparieren, brauchen sie für den nächsten Winter eine Notheizung? - solche Dinge. Wir haben etwa 2100 Fragebögen verteilt. Manchmal gab es keinen Briefkasten mehr, dann haben wir sie durch die Fenster in die zerstörten Häuser geworfen, in der Hoffnung, dass man sie findet. 1100 Antworten kamen zurück. Das war eine gute Quote.
Was haben Sie erlebt, wenn Sie Flutopfer getroffen haben?
Ich hatte pro Treffen fünf bis zehn Minuten geplant, aber am Anfang hat das so gut wie nie ausgereicht, weil ich auch Psychologe und Seelsorger war. Wenn man alles verloren hat, muss man erzählen. Ich halte das aus, meine Kinder sind Messdiener, ich bin bei uns in Bad Kreuznach Lektor in der katholischen Gemeinde.
"Niemand sollte im Winter frieren"
Und konnten Sie den Menschen helfen?
Ich hoffe es. Niemand sollte im Winter frieren. Das hatte sich das Land vorgenommen. Dafür haben wir mit mobilen Ölheizungen sowie Elektroheizstationen gearbeitet. Uns sind aber immer wieder Menschen begegnet, die gesagt haben: "Wir wollen weg von Öl und Gas."
Wie sind Sie mit diesem Wunsch umgegangen?
Wir haben gemeinsam mit der Verbraucherzentrale Infoveranstaltungen organisiert, Thema: "Energetische Gebäudesanierungen und Möglichkeiten der nachhaltigen Wärmeversorgung". Und wir haben einen Ortsbürgermeister eingeladen, der mit seiner Gemeinde eine Energiegenossenschaft und ein Nahwärmenetz aufgebaut hat.
Was ist ein Nahwärmenetz?
Das ist ein Netz, über das mehrere Häuser ihre Wärmeenergie beziehen. Es hat also nicht jedes Haus seine eigene Heizung, sondern mehrere Gebäude teilen sich die Energiequelle. Die Informationsveranstaltungen haben geholfen, denn die Menschen haben gemerkt: Es gibt Alternativen zur fossilen Heizung. Außerdem kam ich auf einer Tagung mit einem Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für solare Energiesysteme in Kontakt, er forscht über den Einsatz von Wärmepumpen in Bestandsgebäuden, also in Häusern, die nicht neu sind, sondern schon älter. Und auch zu sogenannten kalten Nahwärmenetzen. Auch ihn haben wir eingeladen. In der Gemeinde Rech im Ahrtal gehen wir bald das erste Wärmenetz an, 104 von 117 Häusern sollen angeschlossen werden. Im April 2023 soll es fertig sein.
Die Worte "kalt" und "Nahwärme" wirken wie ein Widerspruch …
Das verstehe ich. Bei der warmen Nahwärme kommt das Wasser mit Temperaturen zwischen 70 und 90 Grad in den Haushalten an, nachdem es zum Beispiel in einer solarthermischen Anlage durch die Sonne erwärmt worden ist. Bei der kalten Nahwärme beträgt diese Vorlauftemperatur zwischen 8 und 15 Grad, denn das Wasser kommt aus 80 bis 100 Meter Tiefe.
Wie will man damit heizen?
Ein kaltes Nahwärmenetz besteht aus einem Erdsondenfeld, Wasserleitungen sowie Wärmepumpen. Für die Sonden müssen wir Bohrungen durchführen, damit sie in die Tiefe reichen. Dort nimmt ein Wärmeträgermedium, ein Gemisch aus Wasser und Frostschutzmittel, die Wärme des Erdreichs mit seinen ganzjährig konstanten Temperaturen von 8 bis 15 Grad auf. Durch die Wasserleitung gelangt dieses Trägermedium zu den Abnehmern, den Gebäuden und Häusern. Dort heben Wärmepumpen die bereitgestellte Energie auf das individuell gewünschte Temperaturniveau. Es funktioniert im Prinzip wie ein Kühlschrank, nur umgekehrt. Und man braucht Strom. Dennoch konnten wir zeigen, dass das wesentlich günstiger ist, als mit Öl und Gas zu heizen. Die Idee spricht sich im ganzen Tal herum. Auch aus Orten, die weniger von der Flut betroffen waren, kommen nun die Anfragen. Viele Menschen dort wollten an ihren alten Heizungen festhalten, aber die Aktualität des Ukrainekrieges hat alle eingeholt.
Weil Sie aus Kamerun kommen, sprechen Sie auch Französisch. In Frankreich setzt man auf Atomkraft, in Deutschland werden Stimmen lauter, die drei letzten AKW länger laufen zu lassen. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?
Ich rede viel mit Kollegen aus Luxemburg und Frankreich. In Frankreich ist Atomenergie wie eine Einbahnstraße. Es gibt kaum Alternativen. Die Kollegen dort beneiden mich, dass wir hier in Deutschland mit den erneuerbaren Energien so weit sind, den Energiemix diversifiziert zu haben. Aber auch wir müssen schneller werden. Atomkraft wird uns dabei aber nicht helfen. Wenn es uns gelingt, die Anstrengungen, die wir einsetzen müssten, um Atomkraftwerke zu reaktivieren, in Entwicklung und Umsetzung von erneuerbaren Energieprojekten wie im Ahrtal umzulenken, werden wir sehr schnell aus der fossilen Abhängigkeit kommen.