Als ich zum ersten Mal in einem kurzen Beitrag als lebensbedrohlich erkrankt vorgestellt wurde, dachte ich erschrocken: "Stimmt das überhaupt?" Was ist, wenn es mir weiterhin so gut geht wie gerade jetzt und ich ewig lebe? Ist es dann eine falsche Charakterisierung, die Unwahrheit, mitleidheischend?
Karin Lackus
Laut der Wikipedia ist meine Sorge zu übertreiben ziemlich unbegründet, mein Krebs wird dort als lebensbedrohlich beschrieben, und die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt magere 23 Prozent. Andere Ärzte, mit denen ich gesprochen habe, schätzen meine Chancen besser ein; es ist sogar von Heilung die Rede. Und die Hoffnung lässt mich sowieso ganz lange leben. Mit diesen unterschiedlichen Einschätzungen muss ich nun irgendwie im täglichen Leben klarkommen, zwischen Einkaufen, Essenseinladungen, "Tatort" und Sauna, zwischen Abendessen und Frühstück. Meist gelingt mir das auch ganz gut und die Zahlen sind Schall und Rauch, aber manchmal trifft mich dann doch die ganze Last der Bedrohung und ich versuche darüber zu reden.
Als Pfarrerin war ich ganz selbstverständlich mit dem Tod konfrontiert
Aber, höre ich dann abwehrend gleichermaßen von medizinischen Fachleuten wie von medizinischen Laien, ich dürfe diese Prognosen doch auf keinen Fall überbewerten. Jede Krankheitssituation sei einzigartig und es gehe sowieso nur um Wahrscheinlichkeiten. Ich verstehe das und mag es auch gerne glauben.
Doch dann überlege ich, dass ich mein Leben lang in ganz vielen Bereichen einfach Durchschnitt war, wieso sollte das ausgerechnet jetzt völlig anders sein? Außerdem werden diese Prozentzahlen für das durchschnittliche Überleben ja nicht aus Versehen in wissenschaftlichen Studien berechnet und veröffentlicht. Wenn es um Therapieentscheidungen geht, werden sie ja auch ernst genommen.
Ich glaube, es ist nicht die fehlende Aussagekraft, die das Reden über eine schlechte Prognose so schwer macht. Das Problem ist die unausweichliche Nähe dieser Zahlen zum Thema Tod und Sterben – selbst wenn konsequent nur von Überlebensraten gesprochen wird.
Die Klinikseelsorgerin Karin Lackus protokolliert, wie es ihr selbst ergeht in der Krankheit:
Teil 1: Wenn die Aufgabe verloren geht Teil 2: Wenn man sich nicht ernst genommen fühlt Teil 3: Wenn man den Ernst der Lage nicht wahrnehmen will
Aus meinem beruflichen Alltag kenne ich das anders. Als Pfarrerin und Klinikseelsorgerin war ich regelmäßig auf dem Friedhof und in den Abschiedsräumen der Kliniken; ich war ganz selbstverständlich mit dem Tod konfrontiert – allerdings immer auf der anderen Seite.
Für diesen Aspekt meiner Arbeit habe ich auch viel Anerkennung bekommen. Ich könnte nicht auf einer Palliativstation arbeiten, hörte ich voller Bewunderung.
Zu viel der Ehre, dachte ich schon in gesunden Tagen. Schwerkranke sind gar nicht so schwierige Gesprächspartner*innen, sie sind genauso freundlich, pampig, redselig wie andere auch. Sie sind vielleicht trauriger, nachdenklicher, schmerzgeplagter. Aber man muss ihnen nicht aus dem Weg gehen, um glücklich zu bleiben.
Zum Glück können wir Menschen schwere Gedanken zur Seite zu schieben
Im Gegenteil, ich erinnere mich an eindrückliche Gespräche, die in dieser Intensität im "normalen" Leben erst nach jahrelangem Kennenlernen möglich gewesen wären. Für Geplänkel ist am Ende des Lebens eben nicht so viel Zeit. Die ehrliche und offene Atmosphäre auf einer Palliativstation habe ich immer geschätzt; es wird nicht um den heißen Brei herumgeredet und nicht so viel gejammert über Banalitäten des Alltags.
Verschwiegen wird das Thema Tod und Sterben in der Palliativarbeit nicht, aber es ist auch nicht der ständige Begleiter, der schwer und dunkel auf der Seele liegt und an die eigene Endlichkeit erinnert. Zum Glück haben wir Menschen ja die wunderbare Fähigkeit, schwere Gedanken zur Seite zu schieben, zu verdrängen und die Gegenwart zu leben. Und so wird am Ende des Lebens auch viel gelacht, geredet und erzählt und dazwischen geweint. In gesunden Zeiten habe ich manchmal mit ironischem Unterton angemerkt, dass man die Illusion der eigenen Unsterblichkeit als Seelsorgerin auf einer Palliativstation besonders gut leben kann – es sind ja immer die anderen, die sterben.
Jetzt, wo ich selbst unter dem Damoklesschwert einer miesen Prognose zu leben habe, staune ich, wie gut es mir geht. Ich freue mich an Begegnungen, an der Musik, schönem Wetter und einem spannenden Krimi, trotz der "23 Prozent Überlebensrate", die wie eine schwarze Tonspur immer mitläuft. Ich spüre eine noch engere intensivere Verbundenheit mit den Menschen, die mir schon immer wichtig waren, und ich freue mich über unerwartete Kontakte, freundliche Gesten und Begegnungen. Und auch wenn es vielleicht etwas banal klingt, ich genieße gerade unendlich gutes Essen. Ich lebe heute, und sterben kann ich auch noch später.
Ich will mit meiner Familie zusammen sein, Feste feiern, Geige spielen, wandern
Ob meine Krankheit, meine Trauer über verlorene Lebensmöglichkeiten meinen Glauben verändert habe, wurde ich vor kurzem gefragt. Mein erster Gedanke war, dass mein Glaube mich bislang gut durch die Krankheit getragen hat. Zu jedem Zeitpunkt (der Krankheit) spürte ich festen Boden unter den Füßen und dafür bin ich Gott dankbar. Auch morgens um vier im Krankenhaus unter Corona-Bedingungen war ich nie völlig allein. Natürlich sind da auch alte und neue Zweifel und ich bin wütend auf Gott und die Krankheit. Aber an einem Punkt lebe ich bis heute ungebrochen meinen Kindheitsglauben: Ich bin mir auf eine wunderbare Art und Weise sicher, nach dem Tod bei Gott geborgen zu sein.
Diese Zuversicht und dieses Vertrauen bedeuten allerdings in keiner Weise, dass ich weniger gegen den Tod protestiere und nicht jeden Widerstand leiste, der mir möglich ist. Ich will mit meiner Familie zusammen sein, Feste feiern, Geige spielen und wandern: Ich will leben. Alles, was mir lieb und teuer ist, alles, was ich kenne, ist hier in dieser Welt und nichts davon will ich verlieren.
Der Gedanke an die miese Prognose trifft mich daher immer mal wieder unvermutet mit ungeheurer Heftigkeit. In diesen Zeiten suche ich jeden medizinischen Hinweis, den ich finden kann, jede hilfreiche Information, jede kleine Hoffnung, jede liebevolle Solidarität. Das Letzte, was ich dann brauchen kann, ist Abwehr und Abwiegeln und Beschönigung. Ich möchte dann reden über Wut und Angst, über die schlechte Prognose und über den Tod.
Danach kann ich gut wieder den Tag leben und mich daran freuen. Und nach vorne schauen. Und darauf vertrauen, dass es die Hoffnung ist, die mich jenseits aller Zahlen und Berechnungen und Statistiken ewig leben lässt.