Barbara Ott
"Ich bin doch nur krank ­geworden"
Die Klinikseelsorgerin Karin Lackus ist jetzt selbst Patientin – und erlebt das Krankenhaus und ihren Freundeskreis neu.
privat
08.12.2021

Nach Monaten der Krankheit mit Operationen, Chemotherapien und schweren Infektionen meldete ich mich in einer Rehaklinik an. Diese bat mich in einem Fragebogen, meine regelmäßigen Medikamente anzugeben, was ich auch gewissenhaft tat. Und dann folgte ­eine Bitte, die mich empörte. Ich sollte zusätzlich noch die Originalver­packungen der Medikamente mitbringen, zur Sicherheit. 

privat

Karin Lackus

Karin Lackus, Jahrgang 1959, hat evangelische Theologie studiert und ist Pfarrerin. Zehn ­Jahre arbeitete sie in Mannheim als ­Klinikseelsorgerin. 2016 erschien ­ ihr Buch: "Mir geht es gut, ich sterbe ­gerade" (Neukirchener Verlags­gesellschaft, 12,99 Euro).

Ich hatte gerade geduldig und ­voller Verständnis Fragen beantwortet, dass ich ohne Rollator komme und mich alleine waschen kann. Aber diese Bitte, doch sicherheits­halber den Onkel Doktor das mit den ­Medikamenten kontrollieren zu lassen, fand ich absolut übergriffig. Ich bin doch nur krank geworden, nicht dumm. Verärgert erzählte ich davon meiner Familie und stieß auf überaus halbherzige Empathie. Man könne mich ja verstehen, hörte ich. Aber als Arzt würde man so eine Überprüfung vielleicht auch wollen, und das mit den Dosierungen sei auch so schwierig und erst die komplizierten Namen der Medikamente . . . Offensichtlich bin ich durch die Krankheit überempfindlich geworden, wenn ­irgendwer aus welchen Gründen auch immer glaubt, mich schonen, beschützen oder bemuttern zu müssen.

Es ist einfach mühsam, seiner selbst bewusst zu bleiben, wenn man von jetzt auf nachher nicht mehr berufstätig ist und es schon als großer Fortschritt gewertet wird, Treppen laufen zu können. Es ist schwer, im selbst­bewussten Austausch mit ­anderen zu bleiben, wenn fast alle Fragen, die man zu hören glaubt, die Blutwerte, die Darmtätigkeit und den Appetit zum Gegenstand zu haben scheinen.

Schonung geht auf Kosten von Spontaneität

Gerade war ich noch auf einer ­Konferenz, und am Tag danach finde ich mich in einer völlig un­wirklichen Situation wieder. Ich höre, dass die nächste Zeit anstrengend sein wird. Anstrengend sind auch Berg­wanderungen. Aber ich ahne, dass das hier eher eine freundliche Um­schreibung ist. Ich spüre die Konzentration der Ärztinnen und Pflegenden, das "Richtige" zu sagen. Ich bin dafür dankbar und doch gleichzeitig genervt. Ich brauche diese Schonung, aber sie geht auf Kosten von Spontaneität und Direkt­heit. Ich will auf Augenhöhe mitreden, kann das aber nicht, denn ich habe keine Ahnung. Es geht um mich, um mein Leben, und trotzdem wissen fast alle im Krankenhaus ­besser, was jetzt zu tun ist. Zum Glück, sonst wäre meine Lage ja aussichtslos.

Die Klinikseelsorgerin Karin Lackus ­protokolliert, wie es ihr selbst ergeht in der ­Krankheit:

Teil 1: Wenn die Aufgabe verloren geht Teil 2: Wenn man sich nicht ernst genommen fühlt Teil 3: Wenn man den Ernst der Lage nicht wahrnehmen will

Eine Rückversicherung, dass ich trotzdem immer noch die bin, die ich bin, war in dieser Zeit der großen Hilflosigkeit und Verwirrung mein Mobiltelefon. Ich habe mich über jeden einzelnen Gruß und jede digitale Umarmung gefreut. Genauso wichtig waren und sind mir die Briefe und Karten, die ich alle mehrfach gelesen habe und immer wieder ­hervorhole.

Monate später, im Alltag ­meiner Krankheit, höre ich wiederholt von Freundinnen, Kolleginnen, Bekannten, wie sehr sie sich freuen, endlich wieder etwas von mir zu lesen, wie oft sie an mich gedacht hätten. Kurz überlege ich, warum sie sich dann nicht einfach ­gemeldet und ein schlichtes "Ich denke an dich" geschrieben haben. Ich ­ahne die ­Gründe: aus Unsicherheit, aufdringlich zu sein, aus Angst zu stören, aus der Vermutung heraus, nicht zu den engen Freundschaften zu gehören.

Aus Adress­verteilern herausgenommen ...

Aus meiner jetzigen Perspektive sind solche Befürchtungen, die ich durchaus kenne und verstehe, völlig unnötig. Es gibt keinen guten Grund, sich mit einfachen Grüßen zurück­zuhalten. Solange niemand eine Reaktion oder gar eine Information erwartete, war es für mich selbst auf der Intensivstation gar nicht möglich, dass mir irgendeine Nachricht zu viel wurde. Im Gegenteil. Ich brauchte die Grüße wie die Luft zum Atmen, alle, die fernen und die nahen, die erwarteten und die unerwarteten, die kurzen und die langen.
Je länger meine Krankheit ­dauerte, desto wichtiger wurden mir alle anderen Verbindungskanäle zur gewohnten Welt, Rundbriefe, Tagungseinladungen, Protokolle und vieles mehr. Natürlich ist es nicht nur schön, zu lesen, wann das nächste Treffen sein wird, zu dem ich nicht gehen werde. Aber noch viel merkwürdiger ist es, langsam zu realisieren, dass ich offensichtlich aus einigen Adress­verteilern herausgenommen worden war.

Bei einer überschaubaren Krankheit mag es liebevoll sein, kranke Menschen in Ruhe zu lassen, damit sie Abstand gewinnen, sich erholen können. Da mag es freundlich sein, Menschen nicht mit Fragen und Perspektivdiskussionen, Problemen und Projekten zu belasten. Aber im Alltag einer monatelangen Krankheit sieht das anders aus. Auf der heimischen Couch trifft man nun mal kaum ­Menschen, die erzählen und informieren. Abstand und Ruhe stellen sich nach ein paar Wochen von ganz alleine ein, ob man es will oder nicht.

Überdurchschnittlich viel Post von alten Menschen

In dieser Situation kann es sehr ­wichtig sein, wenigstens zu erfahren, wie es in den gewohnten Netzwerken weitergeht, nicht ganz "draußen" zu sein. Über jede Veränderung durch meine krankheitsbedingte Abwesenheit wollte ich informiert sein, über jede neue Aufgabenaufteilung, ­jeden veränderten Text. Klar kann das schmerzhaft sein, aber freundliche Heimlichkeit macht es eben einfach nicht besser.

Daher sollte man sehr genau überlegen und sich absprechen, bevor man eine Adresse aus einem Post- oder Mailverteiler nimmt. Niemand ist gezwungen, jede Mail zu öffnen, aber ob man das macht oder nicht, das kann jede und jeder selbst entscheiden. Ich zumindest konnte keine vermeintliche Schonung gebrauchen, auch nicht aus Rücksichtnahme, bis es wieder besser ist. Und wenn es nicht wieder besser wird?

In der gesamten Zeit der Krankheit habe ich überdurchschnittlich viel Post von alt gewordenen Menschen bekommen. In gestochen scharfer Schrift erhielt ich einen langen Brief eines alten Herren, dessen Frau ich beerdigt hatte. Die Besucherinnen und Besucher des Trauercafés schickten fast alle Briefe, Karten, Blumen.

"Gut, dass das jemand das Beten für mich übernimmt"

Offensichtlich kennen sich alte Menschen mit Verlusterfahrungen einfach gut aus und wissen, was hilft. Und sie haben eine Ahnung davon, dass Tage keineswegs automatisch ­rasend schnell vorbeigehen. Im ­Gegenteil, alte und kranke Menschen teilen die Erfahrung, dass manche ­Tage auch ewig dauern können.

"Ich bete für Sie", las ich mehrfach in diesen Briefen und Karten. Gut, dass das jemand für mich übernimmt, dachte ich. Denn in der hilflosesten Zeit konnte ich das so gut wie gar nicht. Verständlicherweise, wie ich heute denke. Gebet ist für mich Dialog, hören und reden. Aber in ­dieser Zeit wollte ich gar nicht hören. Ich hatte nur eine Bitte, und die zu formulieren dauert eben nicht lange.

Dann ist es gut zu wissen, dass man nichts, aber auch gar nichts, alleine machen muss. Gemeinschaft trägt – wenn sie nicht aus lauter Rücksicht und Schonung und Geschäftigkeit einfach etwas leise wird.

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