Ich lebe in Bucaramanga im Nordosten Kolumbiens und muss Ohrstöpsel tragen, während ich diesen Text schreibe. Ein Polizeihubschrauber kreist mit Geknatter und Sirene über der Stadt, und die Sicherheitskräfte gehen mit Schockgranaten und Tränengas gegen eine Demonstration vor - wieder einmal.
Nils Naumann
Kolumbien hat in den vergangenen Monaten die bisher schlimmste Phase der Corona-Pandemie erlebt. Von Mai bis Juli starben täglich zwischen 400 und 700 Menschen. Die Intensivstationen und Notaufnahmen vieler Krankenhäuser sind überfüllt. Fast jeder und jede im Land hat Angehörige, Freunde oder Arbeitskolleginnen verloren. Beileidsbekundungen sind Alltag geworden. Gleichzeitig wird seit Ende April fast täglich im ganzen Land demonstriert. Hunderte, Tausende, manchmal sogar Zehntausende gehen auf die Straße, unter ihnen Studierende, Gewerkschaftsangehörige, Sozialaktivisten. Oft ohne Abstand und Schutzmaßnahmen.
Wut über die Ungerechtigkeit
"Es ist die Wut über die Verletzung unserer Rechte, die uns auf die Straße treibt", sagt mein Bekannter Julian, 31, der von Anfang an bei den Protesten dabei war. Der Umweltingenieur ist vor kurzem Vater geworden und demonstriert auch für die Zukunft seines kleinen Sohnes: "Ich wünsche mir für ihn ein Land, in dem alle dieselben Chancen haben."
In Kolumbien können sich nur die Reichen eine gute Ausbildung und eine gute Gesundheitsversorgung leisten. Die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise hat die Lage vieler Menschen verschärft. Nach Angaben des kolumbianischen Statistikamtes reicht das Geld bei fast 35 Prozent der kolumbianischen Familien inzwischen nur noch für zwei Mahlzeiten am Tag. Vor der Pandemie war das bei etwa zehn Prozent der Familien der Fall.
70 Tote bei Demos
Die Demonstrierenden fordern Sozial- und Landreformen und einen verbesserten Zugang zum Bildungssystem. Der kolumbianische Staat reagiert mit brutaler Repression. Nichtregierungsorganisationen meldeten, dass über 70 Menschen durch scharfe Munition oder Schock- oder Tränengasgranaten starben, die Polizisten oder bewaffnete Zivilisten direkt auf ihre Körper abfeuerten. Es ist die Logik des Krieges, die Logik der Aufstandsbekämpfung, die Logik, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Diese Logik dominiert in Kolumbien seit Jahrzehnten. Die Menschen demonstrieren weiter und lassen sich nicht aufhalten. Nicht durch die staatliche Repression, nicht durch die Gefahr durch Corona.