Die allermeisten Kirchengemeinden in Deutschland haben die Corona-Maßnahmen strikt befolgt. Hat Religion genutzt oder geschadet in der Pandemiebekämpfung?
Carolin Hillenbrand: Sowohl als auch. Einerseits gab es religiöse Superspreader-Ereignisse, die Vorurteile bedient haben: Gläubige seien reaktionär, wissenschaftsfeindlich und würden sich nicht an Regeln halten. Aber international sieht das zum Teil ganz anders aus.
Wie denn?
In Ländern, die schon Epidemien durchlitten haben – zum Beispiel mit HIV/Aids oder Ebola –, hatten Religionsgemeinschaften viel Erfahrung, die sie in der Corona-Krise nutzen konnten. Auf dem afrikanischen Kontinent tragen kirchliche Einrichtungen in manchen Ländern bis zu 80 Prozent der Gesundheitsversorgung. Es ist klar, dass sie dort eine positive Rolle spielen. Aber gerade an den fundamentalistischen, extrem religiösen Rändern gibt es natürlich weltweit auch negative Beispiele, die in den Medien sehr präsent sind. Das verdeckt oftmals den Blick auf Vorbilder, die wir identifiziert haben.
Carolin Hillenbrand
Nils Husmann
Konnten solche Vorbilder dazu beitragen, dass sich die Menschen an die Corona-Maßnahmen halten?
Ja. Hilfreich waren etwa religiöse Führungspersonen, die hohes Vertrauen genießen und die spirituelle mit medizinischer Aufklärung verbunden und gepredigt haben: Ja, es ist wichtig, dass wir als Gläubige Abstand zu unseren Nächsten halten und auf Großereignisse verzichten. Und trotzdem können wir – etwa mit digitalen Formen – einander nah sein. Besonders wirkungsvoll sind multi-, interreligiöse Kooperationen in der Pandemiebekämpfung.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
In Nordnigeria, wo es Spannungen zwischen Christ:innen und Muslim:innen gibt, haben sich Friedensaktivist:innen aus beiden Religionen mit Medizinstudierenden zusammengeschlossen und in abgelegenen Dörfern sehr effektiv über das Virus informiert und somit zur Adaption der religiösen Praktiken und Einhaltung der Regeln beigetragen.
"Religionen stärken das Wir"
Sie haben herausgefunden, dass Kirchen helfen können, Verschwörungserzählungen zurückzudrängen. Warum kann das gelingen?
Verschwörungsideologien können eine Art Ersatzreligion sein, weil sie ähnliche Funktionen wie die Religion erfüllen. Sie reduzieren die Komplexität und schaffen starke Wirgruppen in einer Zeit der Vereinzelung. Es zeigen sich zwei Tendenzen: Einerseits gibt es einen bestimmten "religiösen Typ", der empfänglich für Verschwörungen ist. Das können zum Beispiel Menschen sein mit sehr exklusivistischen Glaubensvorstellungen, einem strafenden Gottesbild und Abwertungstendenzen gegenüber anderen Religionen. Andererseits kann nach dem Motto "Man kann nicht Gott und der Verschwörung dienen" ein persönlicher Glaube, eine Beziehung zu Gott davor schützen, sich noch einer Ersatzreligion zuzuwenden. Das trifft vor allem für Menschen zu, die an einen liebenden, gütigen Gott glauben und sozial eingebettet sind, in eine möglichst plurale, offene Religionsgemeinschaft. So verstanden, können Glaubensgemeinschaften einen wichtigen Beitrag beim Umgang mit Verschwörungsgläubigen aufweisen.
Inwiefern?
Indem sie ihnen nicht nur rein rational oder argumentativ begegnen, was oftmals nicht hilft, sondern eher emotional und sozial-psychologisch – und auf die Menschen zugehen, ihre Ängste und Nöte adressieren und Seelsorge anbieten.
Was können Religionen den Menschen in der Pandemie bieten?
Das ist, erstens, der sozial-karitative, diakonische Bereich. Der war öffentlich wenig präsent, aber enorm wichtig, zum Beispiel Suppenküchen oder Telefondienste. Der zweite Faktor ist die seelsorgerlich-spirituelle Arbeit. Viele Menschen haben sich nach Ritualen wie Gottesdiensten oder Trauerbegleitung gesehnt, die Halt geben. Der dritte Punkt ist der theologisch-visionäre Bereich, der auch kreative Lösungs- und Zukunftsvisionen bereithält, wie eine friedliche, nachhaltige Gesellschaft nach der Pandemie aussehen kann.