Frau Haidar, worum geht es im Westsahara-Konflikt überhaupt?
Aminatou Haidar: Eigentlich um Dekolonisierung, also das Ende einer Kolonialherrschaft. Spanien hat sich Ende der 1960er aus seiner damaligen Kolonie zurückgezogen, leider ohne diesen Prozess abzuschließen.
Wer könnte das abschließen?
Normalerweise kümmern sich die Vereinten Nationen um solche Angelegenheiten. Dort stimmte man dafür, uns Sahrauis das Recht einzuräumen, über unsere Zukunft zu bestimmen. Doch Marokko hat die Westsahara militärisch besetzt und will die Sahrauis zum Schweigen bringen, die für die Freiheit kämpfen. Unser Volk wurde zerrissen, getrennt durch eine mit Landminen gesicherte 2700 Kilometer lange Mauer: Ein Teil lebt in den besetzten Gebieten der Westsahara, ein Teil im unbesetzten Osten des Landes, ein anderer unter sehr schwierigen Bedingungen in Flüchtlingslagern in Algerien.
Warum interessiert sich Marokko so sehr für die Westsahara?
Marokko, und im Übrigen auch Europa, geht es um Rohstoffe. Das Gebiet bietet viele Mineralien und reiche Fischgründe. Wir profitieren nicht von diesen Ressourcen, sie kommen uns sogar teuer zu stehen. Wir bezahlen dafür mit unseren Leben. Die Rohstoffe sind der Grund, weshalb die Europäer Marokko zur Seite stehen und kaum über die Westsahara sprechen wollen. Es ist eine Schande.
Aminatou Haidar
Phil Beng
Was ist für Sie das größere Ziel: Frieden oder Selbstbestimmung für Westsahara?
Frieden. Der Frieden ist das Ziel. Aber alles hängt zusammen. Frieden kann es nicht geben, wenn die Rechte der Sahrauis nicht geachtet werden. Alle Rechtsbrüche, die Marokko begeht, lassen sich darauf zurückführen, dass unser Recht auf Selbstbestimmung nicht respektiert wird. Dabei müssen die Sahrauis doch gehört werden! Es muss den internationalen politischen Willen geben, diesen Konflikt zu lösen.
Wie engagieren Sie sich gegen die marokkanische Besatzung?
Zunächst habe ich jahrelang versucht, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzudecken, die Marokko begangen hat. Ich will ein Bewusstsein für die schmerzhaften Erfahrungen schaffen, die wir in den besetzten Gebieten machen. Und ich will den nächsten Generationen die Werte des friedlichen Protestes vermitteln, damit der gewaltlose Widerstand weitergehen kann – als Weg zu unserem Ziel von Freiheit und Unabhängigkeit. Das bedeutet, den Jugendlichen beizubringen, wie man friedlich und ohne Gewalt protestiert. Zum Beispiel die Hände heben, um zu zeigen, dass man unbewaffnet ist. Es ist schwierig, sich dafür zu treffen, weil Organisationen verboten sind. Deshalb müssen wir Aktivisten uns bei uns zu Hause treffen. Aber wir haben eine gewisse Glaubwürdigkeit innerhalb der Sahraui-Gesellschaft – dank unserer friedlichen Demonstrationen, die wir teuer bezahlen mussten, weil wir auf der Straße gefoltert wurden.
"Tausende Sahraui wurden entführt"
Wie unterdrücken marokkanische Sicherheitskräfte die Proteste?
Ich wurde entführt und für vier Jahre festgehalten, mit verbundenen Augen. Damals war ich 20 Jahre alt, fast noch ein Kind. Ich habe körperliche und psychische Folter erduldet. Ich war komplett von der Außenwelt abgeschnitten, nicht einmal meine Familie wusste, wo ich war. Und meine Geschichte ist kein Einzelfall. Tausende Sahraui wurden gewaltsam entführt.
Wie kam es zu Ihrer Verhaftung?
Drei Jahre bevor ich das erste Mal offen auf der Straße protestierte, hatte ich schon an einer diskreteren Form des Widerstands teilgenommen: Slogans an Wände malen, Fahnen verteilen, alles sehr leise, damit die Polizei nicht herausfand, wer dahintersteckte. 1987 kam eine internationale Kommission zu Besuch. Die Gelegenheit wollten wir nicht verpassen, wir wollten der UN zeigen: Wir sind hier, wir wollen die Unabhängigkeit und müssen die Unterdrückung von Marokko über uns ergehen lassen. Dafür wurde ich festgenommen und vier Jahre eingesperrt. Gleich bei meinem ersten Protest. 2005 wurde ich noch einmal festgenommen und misshandelt. Ich wurde aus meiner Heimat abgeschoben, ohne Pass. Und Spaniens Regierung arbeitete dabei eng zusammen mit der marokkanischen. Sie ließ mich nicht ausreisen.
Sie wurden damals nach Lanzarote geschickt.
Genau. Ich bin in den Hungerstreik getreten. Dank internationaler Solidarität konnte ich wieder nach Hause. Jetzt, als Opfer und Aktivistin, will ich dafür sorgen, dass die Rechte der Sahrauis respektiert werden, insbesondere natürlich unser Recht auf Selbstbestimmung.
"Ich will keine Minute Krieg erleben"
Wie?
Durch friedlichen Widerstand. Ich hoffe, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Und ich hoffe, dass es eine friedliche Lösung geben wird.
Warum ist Ihr Protest gewaltfrei?
Ich will keine weitere Minute Krieg erleben. Wir haben unter dem Krieg gelitten, unter der Gewalt. Seit meiner Kindheit lebte ich unter Bombardements, ich habe geliebte Familienmitglieder verloren wie das ganze Volk der Sahauris. Ich will nicht, dass die Frente Polisario, unsere einzige und legitime Vertretung, gezwungen ist, wieder zu den Waffen zu greifen.
Was bedeutet Ihnen der Right Livelihood Award?
Er ist eine deutliche Anerkennung unserer Sache, die Frucht des friedlichen Kampfes der Sahrauis. Mir als Stimme der Sahrauis wird das viele Türen öffnen. Ich kann den Konflikt sichtbar machen. Der Preis wird helfen, den friedlichen Widerstand am Leben zu halten, da bin ich sicher. Preise sind eine Form der Anerkennung. Sie können aber unser Problem nicht lösen.
Was steht einer Lösung im Wege?
Die UN ist verantwortlich für das, was in der Westsahara passiert. Der Sicherheitsrat hat bisher keine Lösung gefunden, weil einige Staaten Marokko unterstützen. Vor allem Frankreich blockiert den Friedensprozess. Ich bedauere es sehr, denn Frankreich ist ein so demokratisches Land.
"Wirtschaftliche Interessen sind wichtiger als Menschenrechte"
Warum tut Frankreich das?
Wegen seiner engen Kontakte zu Marokko und aus wirtschaftlichen Interessen. Spanien macht das allerdings auch. Spanien ist nicht nur die ehemalige Kolonialmacht, sondern gilt weiterhin als Verwaltungsmacht. Europa als Ganzes ist in meinen Augen Komplize, wenn es um die Ausbeutung unserer Rohstoffe geht. Dafür verstößt es sogar gegen internationales Recht und Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofes, der ganz klar bestimmt hat, dass Marokko und Westsahara zwei unterschiedliche Gebiete sind. Marokko darf keine Hoheitsgewalt über unsere Gebiete haben.
Haben Sie ein Beispiel für diese Ausbeutung durch Europa?
Das Fischmehl aus der Westsahara wird nach Bremen verschifft. Der Zoll lässt die Ware passieren, obwohl man dort weiß, woher das Produkt kommt. Ich habe die Bundesregierung aufgerufen, das zu unterbinden. Denn diese Form der Plünderung bestärkt die marokkanische Besatzung und intensiviert letztendlich die Unterdrückung der Sahrauis.
Sie haben zwei Kinder Anfang zwanzig. Die haben den Krieg nicht erlebt, kennen die Westsahara nur als besetztes Gebiet. Was sagen die über den Konflikt?
Sie sagen: Niemand hört uns zu. Unseren friedlichen Protest, unsere Geduld – das bekommt niemand mit. In ihren Augen steht die ganze internationale Gemeinschaft auf der Seite Marokkos. Wirtschaftliche Interessen sind wichtiger als Menschenrechte. Deshalb sagen sie: Wir müssen wieder zu gewaltsamen Methoden greifen. Damit die Welt uns wieder beachtet, sich positioniert. Das ist natürlich eine Jugend, die schwarz sieht für die Zukunft. Sie sind enttäuscht und frustriert. Und jeden Tag sehen sie im Fernsehen, wie die ganze Welt von Palästina oder Syrien spricht. Weil dort eben Blut fließt.
"Ich mache mir Sorgen um die Zukunft"
Meinen Sie, friedlicher Widerstand verändert nichts?
Es gibt vielleicht keinen Krieg, aber auch keinen Frieden. Seit dem Waffenstillstand von 1991, seit 28 Jahren, führen wir einen friedlichen Kampf. Und der kommt uns teuer zu stehen. Willkürliche Festnahmen, Folter, Unterdrückung, Zwangskündigungen ... Alles, um uns zum Schweigen zu bringen. Wie lange soll das so weitergehen? Die Jugend sagt: Der Westsahara-Konflikt ist in Vergessenheit geraten, weil kein Blut mehr fließt. Sie üben jetzt Druck auf unsere Regierung aus, die Frente Polisario, wieder zu den Waffen zu greifen. Bisher halten wir am friedlichen Protest fest. Aber ich mache mir sehr große Sorgen um die Zukunft.
Tatsächlich beherrschen gewaltsame Proteste, wie etwa in Hongkong oder dem Libanon, die Schlagzeilen. Ist Gewalt tatsächlich der Preis, den man bezahlen muss, um die Blicke der Welt auf sich zu ziehen?
Es tut weh zu sehen, dass die Medien nicht von Konflikten berichten, wenn es nicht zu Gewalttaten kommt. Ich erinnere die Jugendlichen dann immer an Mahatma Gandhi, der ein Vorbild ist für mich. Ihm ist es gelungen, sein Volk vor Krieg zu bewahren. Er hat es geschafft, Gewalt zu vermeiden, mit Hungerstreiks. Zwar hat er sein Leben geopfert. Aber sein Ziel, den Kolonialismus zu bezwingen, hat er ohne einen Tropfen Blut erreicht. Das ist die Botschaft, die ich weitergeben will.
Seit 1991 ist die UN mit einer eigenen Friedensmission vor Ort. MINURSO soll ein Referendum zur politischen Zukunft der Westsahara organisieren. Bisher hat das nicht funktioniert.
Die UN zeigt bisher nicht den notwendigen politischen Willen. Vielleicht stecken auch Global Player hinter der Untätigkeit. Gerade im sogenannten "Freundeskreis der Westsahara", der für die UN-Resolutionen verantwortlich ist, gibt es viele, die, ehrlich gesagt, keine Freunde sind.
"Die Jugend hat keine Geduld mehr"
Wer denn?
Frankreich, USA, Spanien ... Tatsächlich müsste man andere Länder mit in die Gruppe holen, einige afrikanische Nationen. Südafrika oder Algerien etwa. Echte Freunde. Und auch Deutschland – warum nicht?
Bis vor kurzem war der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler UN-Sondergesandter für die Westsahara. Wie bewerten Sie seine Arbeit?
In kurzer Zeit hat er die Verhandlungen vorangebracht. Zum ersten Mal seit Jahren des Stillstands haben sich die Parteien wieder an einen Tisch gesetzt. Er hat den Sahrauis Mut gemacht. Aber nun hat er keinen Nachfolger. Marokko hat verschiedene Kandidaten abgelehnt. Und wir hätten gern einen Deutschen, der sich an Horst Köhler wenden kann.
Was muss passieren, damit es nicht zu neuer Gewalt in der Westsahara kommt?
Wir müssen den Dialog aufrechterhalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Wir müssen die Unterdrückung durch Marokko aufhalten und die Situation in den besetzten Gebieten und den Flüchtlingscamps verbessern. Die Jugendlichen brauchen eine handfeste politische und wirtschaftliche Zukunftsperspektive. Nur so können wir sie beruhigen.
Sie glauben auch nach über 40 Jahren, dass es eine Lösung geben wird. Woher nehmen Sie diese Zuversicht?
Von der Geduld, die wir Sahrauis haben! Gerade meine Generation und die vor uns. Aber die nächste Generation: nein. Die hat keine Geduld. Es geht sogar so weit, dass einige Jugendliche uns öffentlich beleidigt haben, sie bezeichnen uns als Komplizen der UN.
Und verstehen Sie das?
Klar verstehe ich das. Das sage ich auch den Amerikanern und den Mitgliedern des Sicherheitsrates: Es kommt eine Zeit, in der wir wegen der Beleidigungen nicht mehr aus unseren Häusern kommen können. Und die UN ist daran schuld. Es kommt ein Moment, in dem die UN und Europa in der besetzten Zone keinen Kontakt mit niemand mehr haben werden. Denn wir Menschenrechtsaktivisten werden uns zurückziehen. Uns werden die Worte ausgehen.
Westsahara - Der vergessene Konflikt
Die Westsahara ist ein Gebiet an der nordafrikanischen Westküste, südlich von Marokko. Spanien gab die ehemalige Kolonie Ende der 1960er nach und nach einseitig auf. Die Nachbarstaaten Marokko und Mauretanien erhoben daraufhin Anspruch auf die dünn besiedelte Region. Spanien, das der UN zufolge weiterhin als Verwaltungsmacht gilt, weist die Zuständigkeit für das Territorium bis heute von sich.
1975 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen mit dem indigenen Volk der Sahrauis, das einen eigenständigen Staat anstrebt: die Demokratische Arabische Republik Westsahara. Im Laufe des Konflikts besetzte Marokko zwei Drittel des Territoriums. Ein Teil der Sahrauis lebt im östlichen Drittel des Landes, der sogenannten Freien Zone. Diese ist durch den Berm, einen mit Minen bestückten Sandwall, vom restlichen Territorium abgetrennt.
Zehntausende Sahrauis flohen ins benachbarte Algerien. 1991 schlossen beide Seiten einen Waffenstillstand. Das von der UN verhandelte Referendum über die politische Zukunft der Westsahara jedoch scheiterte immer wieder daran, dass Marokko und die politische Führung der Sahrauis, die Frente Polisario, sich nicht einig wurden, wer bei dem Entscheid stimmberechtigt wäre.
Bis heute berichtet Amnesty International von Menschenrechtsverstößen auf beiden Seiten. Der UN-Friedensmission vor Ort, MINOSUR, ist es bisher nicht gelungen, die Region nachhaltig zu stabilisieren und die Rahmenbedingung für ein Referendum zu schaffen. Ein großer Teil der Sahrauis lebt weiterhin in den Flüchtlingslagern im algerischen Exil.